09 - Denn sie betrügt man nicht
Informationsansuchen an jene Beamten gestellt worden war, deren Aufgabe es war, die persönlichen Daten solcher Leute zu sammeln, von denen ein Übertreten der gesetzlichen Grenzen am ehesten zu erwarten war. Die Unterlagen, die Emily jetzt in Händen hatte, enthielten das Material, das die zuständige Abteilung der regionalen Hauptdienststelle im Lauf der letzten zehn Jahre über Muhannad Malik zusammengetragen hatte.
Viel war es nicht, und das meiste schien kaum der Rede wert. Der hitzköpfige Teenager, der Muhannad gewesen war, als er das erste Mal auffällig geworden war, schien, auch wenn sein Verhalten an diesem Nachmittag dagegen sprach, im Verlauf der vergangenen zehn Jahre ruhiger geworden und gereift zu sein. Emily hatte seine Schulunterlagen und seine Abschlußzeugnisse vor sich liegen, ebenso seine Studien- und Arbeitspapiere. Er war der respektvolle Sohn eines geachteten Stadtratsmitglieds, der liebevolle Ehemann einer Frau, mit der er seit drei Jahren verheiratet war, der treusorgende Vater zweier kleiner Söhne und ein kompetenter Mitarbeiter im Familienunternehmen. Alles in allem hatte er sich, bis auf einen kleinen dunklen Fleck, zu einem wahren Musterbürger gemausert.
Doch Emily wußte, daß sich hinter scheinbar kleinen dunklen Flecken häufig größere Mängel verbargen. Deshalb las sie weiter. Malik war der Gründer von Jum'a, einer Organisation für junge männliche Pakistanis. Das erklärte Ziel der Vereinigung war es, die Bande unter den Moslems der Gemeinde zu festigen und das stolze Bewußtsein ihrer kulturellen Eigenart, ihrer Unterschiede zu den Menschen des westlichen Kulturkreises, unter denen sie lebten, zu fördern. Zweimal im vergangenen Jahr war Jum'a in Verdacht geraten, bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jungen Pakistanis und Engländern die Hand im Spiel gehabt zu haben. Das eine Mal hatte es sich um einen Verkehrsdisput gehandelt, der zum Faustkampf ausgeartet war; bei dem zweiten Zwischenfall war ein asiatisches Schulmädchen von drei Klassenkameraden mit Rinderblut übergossen worden. Beide Male war es zu Tätlichkeiten gekommen, aber später war niemand bereit gewesen, Jum'a mit den Zwischenfällen in Verbindung zu bringen.
Das reichte nicht, um den jungen Mann aus dem Verkehr zu ziehen. Es reichte nicht einmal, um ihn schief anzusehen. Dennoch war Emily Barlow seine Art des politischen Aktivismus - wie er ihn an diesem Tag demonstriert hatte - nicht geheuer. Und auch nach gründlicher Lektüre des Berichts hatte sie nichts entdeckt, was ihre Bedenken hätte zerstreuen können.
Einige Stunden nach der Demonstration war sie mit ihm und dem Mann, den er als einen Experten auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik bezeichnet hatte, zusammengetroffen. Muhannad hatte es seinem Begleiter überlassen, die Unterredung zu führen, doch es war unmöglich gewesen, seine Anwesenheit zu ignorieren, und das hatte zweifellos in seiner Absicht gelegen.
Er strahlte Feindseligkeit aus. Er lehnte es ab, sich zu setzen. Vielmehr blieb er, an die Wand gelehnt, stehen, die Arme über der Brust verschränkt, und ließ sie keinen Moment aus den Augen. Seine Miene, eine Mischung aus Mißtrauen und Verachtung, war eine einzige Herausforderung an Emily, es bloß zu wagen, ihm bezüglich Querashis Tod Lügen aufzutischen. Sie hatte gar nicht daran gedacht zu lügen - jedenfalls nicht, was die wesentlichen Punkte anging.
Um Temperamentsausbrüchen von seiner Seite vorzubeugen, aber auch, um auf subtile Weise die unausgesprochene Tatsache zu unterstreichen, daß es zwischen der Demonstration und ihrer Bereitschaft, die beiden Männer zu empfangen, keinen Zusammenhang gab, hatte Emily das Wort an den Mann gerichtet, den Muhannad mitgebracht und als seinen Vetter Taymullah Azhar vorgestellt hatte. Im Gegensatz zu Muhannad strahlte dieser Mann eine Art heiterer Gelassenheit aus, wenn er auch als Angehöriger von Muhannads khandan sicherlich von den Überzeugungen der Familie geprägt war. Emily war daher vorsichtig in der Wahl ihrer Worte.
»Nach ersten Untersuchungen erschien uns der Tod Mr. Querashis verdächtig«, sagte sie zu ihm. »Daraufhin forderten wir einen Pathologen vom Innenministerium an. Er wird morgen eintreffen, um die Obduktion durchzuführen.«
»Ist es ein englischer Pathologe?« fragte Muhannad. Was er damit sagen wollte, war klar: Ein englischer Pathologe würde den Interessen der englischen Gemeinde dienen; ein englischer Pathologe würde den Tod eines Asiaten kaum
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