09 - Denn sie betrügt man nicht
Haytham zu finden.
»Ammi«, hatte Sahlah mit leiser Stimme gefragt, als ihre Mutter begann, eine Mahlzeit zuzubereiten, »wer ist dieser Mann?«
»Er ist niemand«, hatte Wardah entschieden geantwortet. »Er existiert nicht.«
Aber natürlich existierte Taymullah Azhar sehr wohl, und Sahlah erfuhr seinen Namen - und dank zehnjährigem Familienklatsch unter den jüngeren Verwandten wußte sie sofort, wer er war -, als ihr Vater bei seiner Heimkehr in die Küche kam und Wardah ihn abfing, um ihn auf die Anwesenheit des Gastes vorzubereiten, den ihr Sohn mitgebracht hatte. Sie tauschten gedämpfte Worte. Nur Akrams Augen verrieten eine Reaktion; sie verengten sich hinter den Gläsern seiner Brille einen Moment lang zu schmalen Schlitzen.
»Warum?« fragte er.
»Wegen Haytham«, antwortete seine Frau. Sie sah Sahlah voller Mitleid an, als glaubte sie, ihre Tochter hätte den Mann, den sie ihr ausgesucht hatten, tatsächlich lieben gelernt. Und warum auch nicht? dachte Sahlah. Wardah, die auf gleiche Weise verheiratet worden war, hatte ja auch gelernt, Akram Malik zu lieben. »Muhannad sagt, der Sohn deines Bruders hat Erfahrung in diesen Angelegenheiten, Akram.«
Akram versetzte verächtlich: »Das kommt darauf an, was man unter ›diesen Angelegenheiten‹ versteht. Du hättest ihn nicht ins Haus lassen sollen.«
»Er ist mit Muhannad gekommen«, entgegnete sie. »Was hätte ich tun sollen?«
Er war jetzt immer noch da, saß an einem Ende des Sofas, während Muhannad am anderen Platz genommen hatte. Akram hatte es sich mit einem von Wardahs bestickten Kissen im Rücken in einem Sessel bequem gemacht. Über den überdimensionalen Bildschirm des Fernsehapparats flimmerte einer von Yumns asiatischen Filmen. Sie hatte nur den Ton ausgedreht, anstatt den Apparat ganz abzustellen, bevor sie nach oben geflüchtet war. Über die Schulter ihres Vaters hinweg konnte Sahlah zwei verzweifelte junge Liebende sehen, die sich heimlich trafen wie Romeo und Julia. Nur fand ihr Stelldichein nicht auf einem Balkon statt, sondern auf einem Feld, wo sie einander in die Arme fielen und zu Boden sanken, verborgen von hohen Maisstengeln. Sahlah sah weg. Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel.
»Ich weiß, daß du mit vielem, was heute nachmittag geschehen ist, nicht einverstanden bist«, sagte Muhannad gerade. »Aber wir haben der Polizei die Zusicherung abgerungen, daß einer ihrer Beamten sich jeden Tag mit uns trifft. Auf diese Weise erfahren wir wenigstens, was vorgeht.« An der scharfen, abgehackten Sprechweise ihres Bruders erkannte Sahlah, daß die unausgesprochene Mißbilligung und Verärgerung seines Vaters ihn reizte. »So weit wären wir in diesem einen Gespräch nicht gekommen, wenn Azhar nicht dabeigewesen wäre, Vater. Er drängte die Beamtin so in die Ecke, daß ihr gar nichts mehr übrigblieb, als zuzustimmen. Und er hat das so geschickt gemacht, daß sie erst gemerkt hat, in welche Richtung er sie führte, als sie dort angekommen war.« Er warf Azhar einen bewundernden Blick zu.
Azhar kniff die Bügelfalte seiner Hose zwischen zwei Fingern, sagte aber kein Wort. Er hielt seinen Blick auf seinen Onkel gerichtet. Sahlah war noch nie jemandem begegnet, der angesichts solcher Ablehnung so viel Gelassenheit zeigte.
»Und das war dein Ziel, als du die Leute zum Aufstand angestiftet hast?«
»Es geht nicht darum, wer wen wozu angestiftet hat. Das Entscheidende ist, daß wir diese Zusicherung bekommen haben.«
»Und du bist der Meinung, daß wir das allein nicht hätten erreichen können, Muhannad? Diese Zusicherung, wie du es nennst.« Akram hob sein Glas und trank von seinem lassi. Er hatte Taymullah Azhar nicht ein einziges Mal angesehen.
»Die Polizei kennt uns, Vater. Sie kennt uns seit Jahren. Und solche Vertrautheit verleitet die Leute im allgemeinen dazu, ihre Pflichten auf die leichte Schulter zu nehmen. Derjenige, der am lautesten schreit, wird als erster verhört, das weißt du doch.«
Diese letzte Bemerkung war ein Fehler. Sie war Muhannads Ungeduld und seiner Abneigung gegen die Engländer entsprungen. Sahlah verstand ihn - auch sie war während ihrer Kindheit oft genug Zielscheibe von Spott und Quälereien ihrer Klassenkameraden gewesen -, aber sie wußte, daß ihr Vater es nicht tat. Er war in Pakistan geboren und erst als junger Mann nach England gekommen und hatte nur einmal offene Ausländerfeindlichkeit zu spüren bekommen. Selbst diese eine öffentliche Demütigung in einem Londoner U-Bahnhof
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