09 - Denn sie betrügt man nicht
einen von uns ermordet hat, oder eisern an Azhars Ausschluß aus unserer Familie festzuhalten? Sahlah ist ebensosehr ein Opfer dieses Verbrechens wie Haytham. Haben wir nicht eine Verpflichtung ihr gegenüber?«
Als Muhannad sie ansah, senkte Sahlah sofort wieder schamhaft den Blick. Aber innerlich war ihr eiskalt. Sie wußte die Wahrheit. Wie war es nur möglich, daß irgend jemand ihren Bruder nicht als das ansah, was er wirklich war?
»Muhannad, ich brauche deine Belehrungen nicht«, entgegnete Akram ruhig.
»Ich will dich ja gar nicht belehren. Ich sage ja nur, daß wir ohne Azhar -«
»Muhannad!« Akram griff sich eins der paräthäs, die seine Frau zubereitet hatte. Sahlah nahm den Geruch des gehackten Rindfleisches wahr, das in die Teigtasche eingeschlagen war, und ihr Magen tat einen kleinen Sprung. »Dieser Mensch, von dem du sprichst, ist für uns tot. Du hättest ihn nicht in unser Leben, geschweige denn in unser Haus holen dürfen. Was das Verbrechen betrifft, das gegen Haytham, deine Schwester und unsere ganze Familie begangen wurde, so bin ich durchaus deiner Meinung - wenn es sich tatsächlich um ein Verbrechen handelt.«
»Aber ich hab' dir doch eben erklärt, daß die Beamtin sagte, daß es Mord ist. Und ich habe dir auch erklärt, daß sie es zugeben mußte, weil wir die Polizeibehörden unter Druck gesetzt haben.«
»Der Druck, den du heute nachmittag ausgeübt hast, war nicht gegen die Polizeibehörden gerichtet.«
»Aber so funktioniert das nun einmal. Siehst du das denn nicht?«
Es war so heiß im Zimmer, daß man kaum atmen konnte. Muhannads weißes T-Shirt klebte an seinem muskulösen Körper. Taymullah Azhar hingegen wirkte so kühl und unberührt von der Hitze, als hätte er sich in eine andere Welt versetzt.
Muhannad wechselte die Taktik. »Es tut mir leid, wenn ich dir Kummer bereitet habe. Vielleicht hätte ich dich vorher warnen sollen, daß es eine Störung der Sitzung geben -«
»Vielleicht?« fragte Akram. »Und das, was sich bei der Sitzung abgespielt hat, war keine einfache Störung.«
»Gut. Gut! Vielleicht habe ich es falsch angepackt.«
»Vielleicht?«
Sahlah sah, wie sich die Muskeln ihres Bruders spannten. Aber er war inzwischen zu alt, um Steine an die Mauer zu feuern, und es waren keine Baumstämme im Zimmer, die er mit Füßen hätte treten können. Sein Gesicht war schweißnaß, und zum ersten Mal erkannte Sahlah, wie wichtig es war, bei zukünftigen Gesprächen mit der Polizei jemanden wie Taymullah Azhar als Vermittler zur Seite zu haben. Muhannad war nicht der Mensch, der unter Druck Ruhe bewahren konnte. Er war jemand, der sich darauf verstand, andere einzuschüchtern, aber in diesem Fall würde das nicht reichen.
»Sieh dir doch an, was die Demonstration uns gebracht hat, Vater: ein Gespräch mit der Beamtin, die die Ermittlungen leitet. Und das Eingeständnis, daß ein Mord vorliegt.«
»Das sehe ich«, gab Akram zu. »Und jetzt wirst du deinem Vetter in aller Form für seine Beratung danken und ihn verabschieden.«
»Das gibt's doch nicht!« Muhannad fegte drei gerahmte Fotografien vom Kaminsims zu Boden. »Was ist eigentlich mit dir los? Wovor hast du Angst? Fühlst du dich diesen verdammten Engländern so verbunden, daß du nicht einmal daran denken kannst -«
»Es reicht!« Akram tat etwas, was er sonst nie tat: Er erhob die Stimme.
»Nein! Es reicht nicht. Du hast ja nur Angst, daß einer von diesen Engländern Haytham ermordet hat. Und daß du dann entsprechend reagieren mußt - sie zum Beispiel anders sehen mußt. Und dem willst du einfach nicht ins Auge sehen, weil du seit siebenundzwanzig Jahren den gottverdammten Engländer mimst.«
Akram war so schnell auf den Beinen, so schnell drüben am Kamin, daß Sahlah erst bewußt wurde, was geschah, als er Muhannad ins Gesicht schlug. Sie schrie auf.
»Hört auf!« Sie nahm die Angst in ihrer Stimme wahr. Sie hatte Angst um beide, Angst davor, was sie einander antun könnten und was sie damit der Familie antun würden. »Muni! Abhy-jahn! Hört auf!«
Die beiden Männer rückten voneinander ab, Akram mit warnend erhobenem Finger, den er Muhannad direkt vor die Augen hielt. Die Geste war typisch für ihn, während der ganzen Kindheit seines Sohnes hatte er sie immer wieder gebraucht. Jetzt jedoch mußte er den Arm heben, um ihr Wirkung zu verleihen, weil Muhannad fast einen halben Kopf größer war als er.
»Wir wollen doch alle das gleiche«, sagte Sahlah. »Wir wollen wissen, was Haytham
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