09 - Denn sie betrügt man nicht
Der Toten erinnert man sich, man betrauert sie und verehrt sie. Der Verstoßene hat nie existiert.«
»Das ist hart«, meinte Barbara. »Aber wäre das für Querashi ein Problem gewesen? Befindet sich seine Familie nicht in Pakistan? Er hätte sie doch sowieso nicht gesehen, nicht wahr?«
»Haytham hätte sicher die Absicht gehabt, seine Familie nach England zu holen, sobald er die Mittel gehabt hätte. Sahlahs Mitgift hätte ihm das ermöglicht.«
Azhars Blick wanderte wieder zum Garten. Hadiyyah sprang über den Rasen und ließ dabei den Wasserball auf ihrem Kopf auf und nieder hüpfen. Azhar lächelte bei dem Anblick und beobachtete seine Tochter weiter, als er zu sprechen fortfuhr. »Ich halte es daher für unwahrscheinlich, Barbara, daß er von der Heirat mit Sahlah zurücktreten wollte.«
»Aber wenn er sich nun in eine andere Frau verliebt hätte? Mir ist schon klar, wie das mit diesen Eheverträgen läuft, und ich kann mir auch vorstellen, daß die Leute bereit sind, sich der Pflicht zu beugen - Mann, man braucht sich ja nur die königliche Familie anzusehen, wie die sich alle im Namen der Pflicht das Leben verpfuscht haben -, aber was wäre passiert, wenn Haytham sich in eine andere Frau verliebt hätte, bevor er recht wußte, wie ihm geschah? So was kommt schließlich vor.«
»Das ist wahr«, sagte er.
»Also. Was, wenn er sich an dem Abend, an dem er gestorben ist, mit einer Geliebten treffen wollte? Und was, wenn die Familie dahintergekommen wäre?« Als Azhar zweifelnd die Stirn runzelte, füge sie hinzu: »Er hatte drei Kondome in der Tasche, Azhar. Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Geschlechtsverkehr.«
»Keine Liebesbeziehung? Eine Liebesbeziehung, die Querashi so viel bedeutete, daß er die bevorstehende Heirat abblasen wollte?«
»Es mag sein, daß Haytham sich in eine andere Frau verliebt hatte«, entgegnete Azhar. »Aber bei uns akzeptiert man es, daß Liebe und Pflicht einander häufig ausschließen, Barbara. Hier im Westen sehen die Menschen die Heirat als die logische Folge der Liebe. Bei uns ist das nicht unbedingt so. Es ist also durchaus möglich, daß Haytham sich in eine andere Frau verliebt hat - und die Tatsache, daß er Kondome bei sich hatte, läßt vermuten, daß er, als er an dem Abend auf den Nez ging, mindestens ein Abenteuer im Sinn hatte, wenn nicht Liebe, dem stimme ich zu -, aber daraus folgt nicht, daß er gewünscht hätte, von seinem Versprechen, meine Cousine zu heiraten, zurückzutreten.«
»Okay, ich akzeptier' das mal so.« Barbara wischte mit einem Stück Toast das restliche Eigelb von ihrem Teller auf und schob es in den Mund. Bedächtig kauend, dachte sie über andere mögliche Konstellationen nach. Als sie auf eine gekommen war und ihre Aufmerksamkeit wieder auf Azhar richtete, um sie ihm auseinanderzusetzen, merkte sie, daß er sie stirnrunzelnd betrachtete. Zweifellos irritierten ihn ihre Tischmanieren, die zumindest beim Frühstück einiges zu wünschen übrig ließen. Sie war so daran gewöhnt, im Schnellverfahren zu essen, daß sie es auch jetzt nicht unterlassen konnte, ihr Frühstück hinunterzuschlingen, als wäre ihr ein Mafiavollstrecker auf den Fersen.
»Was ist, wenn er eine Frau geschwängert hatte?« meinte sie. »Kondome sind nun mal nicht hundertprozentig sicher. Sie können undicht sein, sie können zerreißen, oder sie werden nicht rechtzeitig angelegt.«
»Wenn sie schwanger war, weshalb hätte er dann an dem Abend Kondome mitnehmen sollen? Das wäre doch unnötig gewesen.«
»Stimmt«, bestätigte Barbara. »Aber vielleicht wußte er nicht, daß sie schwanger war. Er traf sich mit ihr wie immer, gut gerüstet, und als er ankam, eröffnete sie ihm die freudige Neuigkeit. Und schon haben wir den Salat, sie ist schwanger, und er ist mit einer anderen Frau verlobt. Was dann?«
Azhar drückte seine Zigarette aus. Er zündete sich eine neue an, ehe er antwortete: »Das wäre sehr bedauerlich gewesen.«
»Okay. Gut. Stellen wir uns also vor, es war so. Hätten die Maliks nicht -«
»Aber Haytham hätte sich weiterhin an Sahlah gebunden gefühlt«, unterbrach er ruhig. »Und die Familie hätte die Frau für die Schwangerschaft verantwortlich gemacht. Da sie wahrscheinlich Engländerin gewesen wäre -«
»Moment mal!« fuhr Barbara dazwischen, aufgebracht über diese Unterstellung. »Weshalb sollte sie wahrscheinlich Engländerin gewesen sein? Woher hätte er überhaupt eine Engländerin kennen sollen?«
»Das Ganze ist doch Ihre Theorie,
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