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09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)

09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)

Titel: 09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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die Augen, so dass sie fast blind waren.
    Die Stunden verstrichen in Schweigen. Vor ihnen schlichen sich die Schatten zwischen die Bäume, die langen Finger der Dämmerung. Hier oben im Norden wurde es früh dunkel. Bran hatte gelernt, sich davor zu fürchten. Jeder Tag schien kürzer zu sein als der letzte, und wenn die Tage schon kalt waren, so brachten die Nächte bittere Grausamkeit.
    Meera hielt erneut an. »Inzwischen hätten wir das Dorf längst erreichen müssen.« Sie sprach seltsam gedämpft.
    »Könnten wir es übersehen haben?«, fragte Bran.
    »Hoffentlich nicht. Wir brauchen einen Unterschlupf, bevor es dunkel wird.«
    Sie hatte recht. Jojen hatte blaue Lippen, Meera dunkelrote Wangen. Brans Gesicht fühlte sich taub an. Hodors Bart war zu Eis erstarrt. Schnee klebte fast bis zu den Knien an seinen Beinen, und Bran fiel auf, dass er immer wieder stolperte. Niemand war so stark wie Hodor, niemand. Und wenn selbst ihm die Kraft ausging …
    »Summer kann das Dorf suchen«, schlug Bran plötzlich vor, und seine Worte hingen als Dunst in der Luft. Er wartete nicht ab, was Meera sagen würde, sondern schloss die Augen und floss aus seinem zerstörten Körper.
    Als er in Summers Leib schlüpfte, wurde der tote Wald plötzlich lebendig. Wo vorher Stille geherrscht hatte, nahm er jetzt Geräusche wahr: Wind in den Bäumen, Hodors Atem, das Scharren des Elchs nach Futter im Schnee. Vertraute Gerüche stiegen ihm in die Nase, feuchtes Laub und totes Gras, der verweste Kadaver eines Eichhörnchens im Gebüsch, der säuerliche Gestank von Menschenschweiß, der Moschusgeruch des Elchs. Essen. Fleisch. Der Elch spürte sein Begehren. Er drehte den Kopf zum Schattenwolf um und senkte wachsam das Geweih.
    Er ist keine Beute, flüsterte der Junge dem Tier zu, mit dem er sich den Leib teilte. Lass ihn in Ruhe. Lauf.
    Summer lief. Über den See lief er, und mit jedem Schritt warfen die Pfoten Schnee in die Luft. Die Bäume standen dicht an dicht wie Männer in einer Schlachtreihe, alle in Weiß gehüllt. Über Wurzeln und Steine jagte der Schattenwolf dahin, durch eine alte Schneewehe, deren Kruste unter dem Gewicht knackte. Seine Pfoten wurden nass und kalt. Auf dem nächsten Hügel standen Kiefern, und der scharfe Geruch ihrer Nadeln erfüllte die Luft. Als er die Spitze erreichte, drehte er sich in alle Richtungen, schnüffelte, hob den Kopf und heulte.
    Da waren die Gerüche. Menschengerüche.
    Asche, dachte Bran, alt und schwach, aber Asche. Er war der Geruch von verbranntem Holz, Ruß und Holzkohle. Der Geruch eines toten Feuers.
    Er schüttelte den Schnee von der Schnauze. Der Wind wehte in Böen, daher war es nicht leicht, der Witterung zu folgen. Der Wolf lief hierhin und dorthin und schnüffelte. Überall waren Schneehaufen und hohe, in Weiß gekleidete Bäume. Der Wolf ließ die Zunge zwischen den Zähnen hängen und schmeckte die kalte Luft. Sein Atem bildete Dunst, während Schneeflocken auf der Zunge schmolzen. Als er weiter auf den Geruch zutrottete, wankte Hodor ihm sofort hinterher. Der Elch ließ sich mehr Zeit für seine Entscheidung, also kehrte Bran widerwillig in seinen eigenen Körper zurück und sagte: »Dort entlang. Folgt Summer. Ich habe es gerochen.«
    Als das erste Stück einer Mondsichel durch die Wolken schimmerte, taumelten sie schließlich in das Dorf am See. Beinahe wären sie einfach hindurchgewandert. Vom Eis aus unterschied sich das Dorf kaum von anderen Stellen entlang des Seeufers. Unter Schneewehen begraben hätten die runden Steinhäuser auch Felsbrocken, kleine Hügel oder Baumstämme sein können, so wie der entwurzelte Baum, den Jojen gestern versehentlich für eine Hütte gehalten hatte. Sie hatten tief gegraben und schließlich nur abgebrochene Äste und verrottetes Holz gefunden.
    Das Dorf war leer, ebenso von den Wildlingen verlassen, die einst hier gelebt hatten, wie die anderen Siedlungen, durch die sie unterwegs gekommen waren. Manche hatte man niedergebrannt, als hätten die Bewohner sich selbst eine Rückkehr unmöglich machen wollen, doch diesem war die Fackel erspart geblieben. Unter dem Schnee entdeckten sie ein Dutzend Hütten und eine Langhalle, die ein Sodendach und dicke Wände aus grob behauenen Balken hatte.
    »Wenigstens sind wir vor dem Wind geschützt«, sagte Bran.
    »Ho dor «, sagte Hodor.
    Meera rutschte vom Rücken des Elchs. Zusammen mit ihrem Bruder half sie, Bran aus dem Weidenkorb zu heben. »Vielleicht haben die Wildlinge ja etwas zu essen

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