09 Der Sohn des Greifen (alte Übersetzung)
Jon weigerte sich, ihm in die Augen zu blicken. Der Boden des Holzkäfigs war herausgebrochen, die Stangen zerbröckelten. Jedes Mal, wenn die Flammen in die Höhe schlugen, lösten sich weitere Äste und fielen kirschrot und schwarz in die Grube. »Der Herr des Lichts erschuf Sonne und Mond und Sterne, um uns den Weg zu erleuchten, und er hat uns das Feuer geschenkt, um die Nacht fernzuhalten«, verkündete Melisandre den Wildlingen. »Niemand kann seinen Flammen widerstehen.«
» Niemand kann seinen Flammen widerstehen«, wiederholten die Männer der Königin.
Die tief scharlachrote Robe der Roten Frau wallte auf, und ihr kupferrotes Haar wob einen Glorienschein um ihr Gesicht. Große gelbe Flammen tanzten wie Krallen auf ihren Fingerspitzen. » FREIES VOLK! Eure falschen Götter können euch nicht helfen. Euer falsches Horn hat euch nicht gerettet. Euer falscher König hat euch nur Tod, Verzweiflung und Niederlage gebracht… Doch hier steht der wahre König. SEHET SEINE HERRLICHKEIT!«
Stannis Baratheon zog Lightbringer.
Das Schwert glühte rot und gelb und orange in lebendigem Lichtschein. Jon kannte dieses Schauspiel bereits … aber nicht so , niemals so. Lightbringer erschien wie eine aus Stahl geschmiedet Sonne. Als Stannis die Klinge über den Kopf hob, mussten die Anwesenden entweder den Kopf abwenden oder die Augen bedecken. Pferde scheuten, eins warf sogar seinen Reiter ab. Die Flammen in der Grube schienen vor diesem Sturm aus Licht zu schrumpfen wie ein kleiner Hund, der sich vor einem größeren duckt. Die Mauer selbst wurde rot und rosa und orange, als Wellen aus Farben über das Eis tanzten. Ist dies die Kraft des Königsblutes?
» Westeros hat nur einen König«, sagte Stannis. Seine Stimme klang barsch, ihr fehlte Melisandres Melodie. »Mit diesem Schwert verteidige ich meine Untertanen und zerstöre jene, die sie bedrohen. Beugt das Knie, und ich verspreche euch Essen, Land und Gerechtigkeit. Kniet nieder und lebt. Oder geht und sterbt. Die Wahl liegt bei euch.« Er steckte Lightbringer in die Scheide zurück, und die Welt wurde wieder dunkel, als wäre die Sonne hinter eine Wolke gezogen. »Öffnet die Tore!«
» ÖFFNET DIE TORE!«, brüllte Ser Klayton Suggs mit einer Stimme, die so tief wie ein Schlachthorn dröhnte. » ÖFFNET DIE TORE!«, wiederholte Ser Corliss Heller, der den Befehl über die Wachen hatte. » Öffnet die Tore!«, riefen die Feldwebel. Männer beeilten sich, den Befehl auszuführen. Angespitzte Pfähle wurden aus dem Boden gehebelt, Bohlen über tiefe Gräben gelegt und das Tor des Pferchs geöffnet. Jon Snow hob die Hand und senkte sie wieder, woraufhin die schwarzen Reihen nach rechts und links rückten und eine Gasse zur Mauer freigaben, wo der Schwermütige Edd das Eisentor aufstieß.
»Kommt«, drängte Melisandre, »kommt zum Licht … oder lauft zurück in die Dunkelheit.« In der Grube unter ihr knisterte das Feuer. »Wenn ihr das Leben wählt, kommt zu mir.«
Und sie kamen. Zunächst vereinzelt verließen die Gefangenen den rau gezimmerten Pferch, manche humpelten und andere mussten sich auf einen Gefährten stützen. Wenn ihr essen wollt, kommt zu mir, dachte Jon. Wenn ihr nicht erfrieren oder verhungern wollt, unterwerft euch. Zögerlich und auf der Hut vor einer Falle gingen die ersten Gefangenen über die Bohlen und durch den Ring aus Pfählen auf Melisandre und die Mauer zu. Weitere folgten, als sie sahen, dass denen vor ihnen kein Leid zugefügt wurde. Es kamen immer mehr, bis sie zu einem steten Strom wurden. Männer der Königin in Nietenkoller und Halbhelm reichten jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind ein Stück weißes Wehrholz: einen Stock oder ein Stück Ast, bleich wie gebrochene Knochen, mit blutroten Blättern. Ein Stück der alten Götter als Speise für den neuen. Jon ballte seine Schwerthand.
Die Hitze der Feuergrube war selbst aus der Entfernung zu spüren; für die Wildlinge musste es eine Höllenglut sein. Er sah Männer, die sich duckten, als sie sich den Flammen näherten. Kinder begannen zu weinen. Ein paar Wildlinge wandten sich dem Wald zu. Eine junge Frau taumelte mit einem Kind an jeder Hand davon. Bei jedem Schritt schaute sie sich um und vergewisserte sich, dass sie nicht verfolgt wurde, und als sie sich den Bäumen näherte, begann sie zu laufen. Ein Graubart nahm den Wehrholzast, den man ihm gab, und setzte ihn als Waffe ein. Er schlug um sich, bis die Männer der Königin mit Speeren auf ihn losgingen. Die anderen mussten
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