09-Die Pfade des Schicksals
am liebsten gar nicht angesehen. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass sein Zustand unverändert war. Aber schon ein flüchtiger Blick auf seine schlaffe Haltung, die trüben Augen, den sabbernden Mund und die mit erstem Bartflaum bedeckten Wangen bestätigte, dass er weiter der Gefangene des Croyel war. Und die tyrannische Bösartigkeit des Ungeheuers war ungebrochen. Trotz der erschreckend scharfen Klinge des Krill an seinem Hals glitzerten in seinen Augen unbestimmte Drohungen, und seine Kiefer mahlten, als könnten sie es kaum erwarten, sich wieder in Jeremiahs Hals zu graben.
Die Bisswunden an den Stellen, wo das Ungeheuer sich von seinem Blut ernährt hatte, waren unverschorft offen; sie bluteten jedoch nicht und ließen keine Anzeichen einer Entzündung erkennen. Zumindest vorläufig hatte Linden nicht den Mut, das Risiko einer Behandlung einzugehen.
Falls der Croyel irgendeinen konkreten Grund hatte, auf Rettung zu hoffen, konnte Linden ihn nicht erkennen - jedenfalls nicht, ohne das Feuer ihres Stabes zu gebrauchen. Aber das würde sie demnächst tun, nahm sie sich vor. Ursprünglich war sie vor der Gedankenwelt des Croyel - und ihrer engen Verbindung mit der Jeremiahs - zurückgeschreckt. Aber nun verfügte sie über andere Mittel.
Reichte der Stab des Gesetzes nicht aus, konnte sie dank ihres ungehindert analytischen Gesundheitssinns wilde Magie so präzise einsetzen, dass sie den Croyel vernichten konnte, ohne ihrem Sohn zu schaden.
Aber sie war noch nicht bereit. Körperliche Anstrengungen hatten sie erschöpft, zu schwach für übermäßige Risiken zurückgelassen. Sie brauchte Zeit, um sich zu erholen, ehe sie die Herausforderung, ihren Sohn aus seiner Notlage zu befreien, auf sich nahm.
Außer Covenant und Anele waren jetzt alle ihre Gefährten auf den Beinen. Aber als Linden einige Schritte von Covenant entfernt im Schatten eines Felsblocks zu Boden sank, nahmen die Riesinnen dankbar seufzend ebenfalls Platz. Liand und die Ramen folgten ihrem Beispiel. Vielleicht unbewusst bildeten sie einen weiten Halbkreis, der von Linden bis zu Covenant reichte, ohne Anele auszuschließen.
Linden, die nicht wusste, was sie sagen oder wie sie beginnen sollte, fragte verlegen:»Habt ihr schon irgendwas beschlossen?«
»Ohne dich?«, schnaubte Covenant, aber sein Schnauben galt anscheinend nicht ihr. Stattdessen schien er auf sich selbst wütend zu sein. »Du vergisst, mit wem du sprichst. Auf irgendeine Weise sind wir alle von dir abhängig.« Er verzog das Gesicht. »Zumindest sind sie das.« Seine verstümmelte Hand deutete auf den Halbkreis. »Jedenfalls würde es keinem von uns einfallen, ohne dich Pläne zu schmieden.«
Ich weiß, dass das schwer ist. Ich weiß, dass du glaubst, am Ende deiner Kräfte zu sein. Aber du bist noch nicht fertig.
Zuvor hatte Covenant die Gedemütigten angewiesen, ihr behilflich zu sein; aber Linden war nicht zuversichtlich, dass sie das nochmals tun würden.
Und sein Bestreben, sich von ihren übrigen Gefährten abzugrenzen, schmerzte sie. Darauf war sie ganz entschieden nicht vorbereitet gewesen. Sie war darauf angewiesen, dass er ihr und den anderen sagte, was sie tun sollten.
Trotzdem musste Linden irgendetwas sagen. Mit einer Hand über den Augen, um sie vor der grellen Sonne zu schützen, tat sie ihr Bestes.
»Dann sollten wir vermutlich mit dem Offensichtlichen beginnen. Vielleicht kann Stave uns sagen, wo wir Nahrung finden können.« Er kannte dieses Gebiet. Die Haruchai als Rasse vergaßen nie etwas. »Viel mehr interessiert mich jedoch…« Sie schluckte schmerzlich; ihre Kehle war schon wieder ausgetrocknet. »Wieso hat der Eifrige uns verlassen? Und wieso hat er uns hier abgesetzt?«
Covenant zuckte mit den Schultern: eine Geste wie ein Zusammenfahren. »Er hat sich abgesetzt, weil er glaubt, dem Untergang geweiht zu sein. Dass er den Egger absichtlich behindert hat, bedeutet sein Ende, und er will uns noch einen letzten Dienst erweisen, bevor er zerfällt. Wahrscheinlich hofft er darauf, dass sein Volk ihn noch etwas länger zusammenhält.
Was das Gebiet hier betrifft … er hat von einer Atempause gesprochen. Abstand zu unseren Feinden. Gelegenheit, uns zu erholen, vielleicht sogar nachzudenken.« Covenant machte ein finster zweifelndes Gesicht. »Er hat noch etwas anderes angedeutet, sich aber nicht sehr deutlich ausgedrückt.«
Während Linden den Schock zu verarbeiten versuchte, dass der Eifrige sich für Jeremiah und sie aufgeopfert hatte -
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