09 - Old Surehand III
Surehand, daß es so sonderbare Menschen gibt?“
„Da Ihr es sagt, muß es wohl so sein.“
„Oh, es gibt solche Maiers und Müllers zu Hunderttausenden. Diese Christen sind die größten Feinde des wahren Christentums. Sie stellen sich zu Gott auf denselben Fuß, auf welchem ein Fuhrherr zu seinem Kutscher steht, der Woche für Woche seinen Lohn ausgezahlt bekommt. Aber geht nun einmal zur armen Witwe, welche von früh bis abends und auch nächtelang am heißen Waschkessel oder am kalten Wasser des Flusses schafft und arbeitet, um sich und ihre Kinder ehrlich durch das Leben zu bringen! Sie hat sich die Gicht angewaschen; sie spart sich den Bissen vom Mund ab, um ihn den Kindern zu geben; sie hat kein Sonntags- und kein Kirchenkleid; sie sinkt nach vollbrachtem Tagewerk todmüde auf ihr Lager und schläft ein, ohne eine bestimmte Anzahl von Gebetsworten gedankenlos heruntergeleiert zu haben; aber ich sage Euch! Ihr ununterbrochenes Sorgen und Schaffen ist ein immerwährendes Gebet, welches die Engel zum Himmel tragen, und wenn die Not, der Hunger ihr ein ‚Du mein Herr und Gott!‘ aus dem gepeinigten Herzen über die Lippen treibt, so ist dieser Seufzer ein vor Gott schwerer wiegendes Gebet als alle die Gesangbuchslieder, welche Herr Maier oder Müller während seines ganzen Lebens gesungen hat! Also betet, Mr. Surehand, betet! Aber denkt ja nicht, daß es sofort helfen muß! Betet in Gedanken, in allen Euren Worten und in allen Euren Taten! Hättet Ihr mehr gebetet, so wäre Euch der Helfer längst erschienen!“
„Das ist viel, sehr viel gesagt, Mr. Shatterhand!“
„Jawohl; aber ich weiß, was ich sage. Ein altes Kirchenlied sagt:
‚Mit Sorgen und mit Grämen
Und selbstgemachter Pein
Läßt er sich gar nichts nehmen;
Es muß erbeten sein!‘
Jedes Kind sagt dem Vater seine Wünsche; hat nicht auch das Erdenkind dem himmlischen Vater seine Liebe und sein Vertrauen dadurch zu beweisen, daß es von Herzen zu ihm spricht? Wird ein Vater seinem Sohn eine gerechte Bitte abschlagen, die er erfüllen kann? Und steht die Liebe und Allmacht Gottes nicht unendlich höher als die Liebe und Macht eines Menschen? Glaubt es mir: Wenn der große Wunsch, den Ihr im Herzen tragt, überhaupt zu erfüllen ist, so wäre er schon längst erfüllt, wenn ihr an Gott geglaubt und zu ihm gebetet hättet!“
„Was wißt Ihr von der Größe meines Wunsches?“
„Ich ahne es.“
„Wieder Ahnung!“
„Pshaw! Ahnungen sind innere Stimmen, auf die ich immer achte. Ihr habt mir damals im Llano estacado gesagt, daß Euch der Glaube an Gott durch unglückliche Ereignisse verlorengegangen sei. Soll ich da nicht ahnen, daß ihr euch nach dem Ende dieses Unglücks sehnt?“
„Richtig! Ich dachte, Ihr quältet Euch als Freund in Gedanken damit ab, mir die Ruhe wiederzugeben, welche ich verloren habe!“
„Was würden Euch meine Gedanken helfen? Die wahre Freundschaft bewährt sich durch die Tat, und wenn Ihr mich in dieser Beziehung einmal braucht, so habt Ihr gar nicht nötig, mich erst darum zu fragen.“
Was ich ihm vorhin in Beziehung auf die Gebetserhörung sagte, war nicht bloße Redensart. Ich hatte damals die Squaw des Medizinmannes im Kaam-kulano getroffen und dann Old Surehand nichts von dieser Begegnung gesagt; das war nicht infolge einer Überlegung, also nicht aus einem besondern Grund unterlassen worden, sondern es hatte sich keine Gelegenheit geboten, diese Frau besonders gegen ihn zu erwähnen. Wäre er aber ein gläubiger Christ und gewohnt gewesen, seine Herzenswünsche dem Gebet anzuvertrauen, so hätte ich ihm ganz gewiß von dieser Frau erzählt. Das ist meine Überzeugung, denn ich weiß, daß es Eingebungen gibt, und habe das auch schon erwähnt.
Unser Gespräch wurde dadurch unterbrochen, daß wir über ein querüberfließendes Wasser mußten, welches nicht tief und so hell war, daß wir den Grund deutlich sahen. Wir bemerkten Eindrücke von Pferdehufen, konnten aber nicht herausbekommen, wieviel Pferde es gewesen waren, vier oder fünf aber jedenfalls nicht. Ebenso war es unmöglich, die Zeit zu bestimmen, in welcher diese Eindrücke entstanden waren, denn das Wasser hatte ein unbedeutendes Gefälle und also nicht die Kraft, sie binnen kurzer Zeit zu zerstören. Es konnten Stunden oder Tage, aber auch Wochen vergangen sein, seit diese Spuren entstanden waren. Aber eine Wirkung hatten sie doch: Wir schenkten in Beziehung auf Fährten dem Weg mehr Aufmerksamkeit, als wir es in letzter Zeit getan
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