09 - Vor dem Tod sind alle gleich
nervös.
»Können wir denn sicher sein, daß sie diesmal die Wahrheit sagt? Sie gibt zu, daß sie damals gelogen hat, also lügt sie vielleicht wieder? Die Geschichte hört sich zu grotesk an, als daß sie stimmen könnte.«
»Zu grotesk, als daß eine Dreizehnjährige sie hätte erfinden können«, erwiderte Fidelma scharf. Sie wandte sich wieder an Fial. »Nur noch ein paar Fragen, Kleine. Als du auf dem Schiff in der Dunkelheit angekettet warst, hast du deine Zeit genutzt, nicht wahr?«
Fial sah sie fragend an. »Woher weißt du das?«
»Du hast ein scharfes Stück Metall gefunden und angefangen, die Befestigung der Kette um deine Füße aus der Wand zu sägen.«
»Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dazu brauchte – eine Ewigkeit.«
»Und als du frei warst…?«
»Ich konnte mich nur von den Fußfesseln befreien. Die Handschellen saßen noch fest.«
»Genau. Aber du konntest durch die kleine Luke in Gabráns Kajüte hochklettern? Der Durchgang zur Hauptkajüte war natürlich verschlossen.«
»Also hat sie ihn umgebracht!« rief Äbtissin Fainder, die nun merkte, worauf es hinauslief. »Sie erstach ihn in dem Moment, als ich an Bord kam. Ja«, überlegte sie, »sie muß die Tat genau zu dem Zeitpunkt begangen haben. Ich klopfte an die Kajütentür, und das Mädchen schlüpfte durch Luke zurück. Und während ich mich dann über den Leichnam beugte, entkam sie durch die Kajüte und ließ sich über Bord gleiten. Das war das Plätschern, das ich hörte.«
»Du hast beinahe recht, Mutter Äbtissin«, stimmte ihr Fidelma zu.
» Beinahe recht?« fragte die Äbtissin streitlustig.
»Als Fial in die Kajüte kletterte, stellte sie fest, daß Gabrán bereits tot war. Er starb durch einen Schwertstreich, der mit mächtiger Wucht geführt wurde. Stimmt das, Fial? Soll ich weitererzählen?«
Das Mädchen war völlig verblüfft von ihrer scheinbaren Allwissenheit. Als sie schwieg, fuhr Fidelma fort: »Fial wußte, wo Gabrán seine Schlüssel aufbewahrte, und befreite sich von den Handschellen. Sie wollte sich entfernen, als sie der Durst nach Rache überkam, Rache für das schreckliche Leid, das ihr dieser brutale Mensch zugefügt hatte. Es war vielleicht eine instinktive, unreife Reaktion. Sie ergriff ein herumliegendes Messer, zog Gabrán an den Haaren hoch – in ihrer Wut packte sie seine Haare so fest, daß sie ein Büschel davon mit den Wurzeln ausriß – und stieß ihm das Messer ein halbdutzendmal in Brust und Arme. Die Wunden waren oberflächlich. Dann klopfte die Äbtissin an die Tür. Fial ließ das Messer fallen und den Leichnam los. Das war der dumpfe Fall, den Fainder hörte.
Fial wußte, daß sie entkommen mußte. Der einzige Weg führte nach unten, aber die Tür war verschlossen. Sie riß ein paar Schlüssel in Gabráns Kajüte an sich. Es waren vier. Sie dachte, daß einer davon zum Schloß ihres Gefängnisses passen würde. Das war ihr einziger Fluchtweg. Sie schlüpfte zurück in ihre Kajüte. Der Rest ist klar.«
Fidelma hielt inne, nahm das Gesicht des Mädchens in beide Hände und zog es hoch, so daß Fial ihr in die Augen schauen mußte.
»Habe ich es richtig wiedergegeben, meine Liebe? Ist es so gewesen?«
Fial stieß einen schweren Seufzer aus.
»Ich hätte ihn umgebracht, wenn ich gekonnt hätte. Ich haßte ihn so sehr – für das, was er mir angetan hatte! Was er mir angetan hatte!«
Fidelma nahm das Kind tröstend in die Arme.
Coba lehnte sich zurück, schloß die Augen und holte tief Luft.
»Habe ich das richtig verstanden? Während die Äbtissin in Gabráns Kajüte war, gelangte das Mädchen an Deck und sprang in den Fluß? Die Strömung ist dort sehr stark. Warum ging es nicht einfach an Land?«
»Das habe ich mich auf dem Schiff auch gefragt«, gestand Fidelma. »Aber ich habe nicht berücksichtigt, daß die Furcht ein mächtiger Antrieb ist. Die arme Fial war zu Tode erschrocken. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Sie wollte auf keinen Fall auf sich aufmerksam machen, indem sie vom Schiff auf den Kai stieg. Sie wußte nicht, ob sich dort nicht ihre Feinde aufhielten. Sie konnte offensichtlich gut schwimmen und zog diesen Weg vor. Und als sie kurz danach am Ufer auf Forbassach und Mel stieß…«
»… dachte sie, wir gehörten mit zu dieser Sklavenhändlerverschwörung«, ergänzte Mel.
»Verschwörung ist der richtige Ausdruck, Mel. Denn es gibt hier noch viele Geheimnisse zu ergründen.«
Äbtissin Fainder rümpfte verächtlich die Nase.
»Das ist wohl wahr,
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