09 - Vor dem Tod sind alle gleich
dann auf euch…« Er zuckte die Achseln und lächelte schief.
»Na, alles andere weißt du ja, Schwester.«
Fidelma dachte eine Weile über diese Aussage nach und seufzte dann tief. Sie wandte sich an Fial. Die hatte aufgehört zu schluchzen, sah aber mitgenommen und elend aus.
»Fial, zuerst will ich dir sagen, daß ich es nicht böse mit dir meine. Wenn du zu mir ehrlich bist, bin ich auch zu dir ehrlich. Verstehst du mich?«
Das Mädchen antwortete nicht, seine Augen erinnerten Fidelma an die eines verschreckten Tieres, das ein Raubtier auf sich zukommen sieht. Impulsiv ging sie hin und legte dem Mädchen den Arm um die schmalen Schultern.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bin nicht deine Feindin, und ich werde dich vor deinen Feinden beschützen. Glaubst du mir?«
Es gab auch jetzt keine Reaktion. Fidelma versuchte es mit direkten Fragen.
»Wie lange warst du auf Gabráns Schiff gefangen?«
Das Mädchen schwieg weiter.
»Ich weiß, daß du dort warst. Du warst in einer kleinen Kajüte unter Deck angekettet.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Fial erschauerte und antwortete endlich.
»Ich weiß nicht, wie lange ich da war. Das letzte Mal waren es wohl zwei oder drei Tage. Es war dunkel, und ich hatte keine Ahnung, wie lange es war.«
»Du legst dem Mädchen die Worte in den Mund«, wandte Äbtissin Fainder ein.
Fidelma nahm Fials Hände mit ihren beiden Händen und hielt sie den Zuschauern hin.
»Habe ich auch diese Stellen an ihren Handgelenken verursacht, Äbtissin Fainder?« fragte sie ruhig. Die Handgelenke wiesen wunde Stellen auf, wo die Fesseln gerieben hatten. »Ich glaube, Fial könnte dir ähnliche Stellen an ihren Fußgelenken zeigen.«
Coba hatte bereits festgestellt, daß es sie gab.
»Wurdest du auf dem Schiff angekettet, Kind?« brummte er.
Als das Mädchen nicht antwortete, ermunterte es Fidelma, indem sie die Frage sanft wiederholte. Fial senkte den Kopf.
»Ja.«
»Wie konnte jemand so etwas einer Novizin antun?« empörte sich Äbtissin Fainder, die nun bereit war, das zu glauben, was sie vor Augen hatte. »Wer es auch war, er wird dafür zu bezahlen haben.«
Fidelma warf ihr einen spöttischen Blick zu.
»Gabrán hat bereits dafür bezahlt, Äbtissin, wie du dich erinnern wirst. Dieselben Wunden von Handschellen waren auch bei Gormgilla zu sehen, laut Aussage deines Arztes, Bruder Miachs.« Dann wandte sie sich wieder dem Mädchen zu. »Außerdem war Fial niemals Novizin, weder in Fearna noch in irgendeiner anderen Abtei. Ist es nicht so?«
Fial schüttelte den Kopf.
»Du hast mir aber gesagt…«, fuhr Äbtissin Fainder auf, doch Fidelma brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.
»Erzähl uns deine Geschichte, Kind. Du und deine Freundin Gormgilla, ihr wurdet vor ein paar Wochen auf Gabráns Schiff nach Fearna gebracht, nicht wahr?«
»Wir waren keine Freundinnen, bis wir uns kennenlernten, nachdem Gabrán uns als Gefangene auf sein Schiff nahm«, antwortete das Mädchen.
Äbtissin Fainder starrte sie zornig an. »Das ist aber nicht die Geschichte, die du dem Gericht bei der Verhandlung gegen den Angelsachsen erzählt hast.«
»Es gibt viele Geschichten, die dem Gericht erzählt wurden und die verändert werden müssen«, erwiderte Fidelma bissig. »Laß das Mädchen weiterreden. Wo stammst du her?«
»Unsere Väter waren beide daer-fudir, und da wir nur Töchter waren, ließen sie sich zu unserer Schande von Gabráns Gold dazu verführen, sich von uns zu trennen. Gormgilla und ich sprachen darüber in den langen dunklen Zeiten, in denen wir zusammen waren.«
»Willst du damit behaupten, daß Gabrán Mädchen kaufte und sie weiter unten am Fluß verkaufte – an die Abtei ?« rief Äbtissin Fainder entsetzt.
»Nicht an die Abtei«, verbesserte sie Fidelma. »Gabrán nahm die Mädchen wahrscheinlich den Fluß hinunter mit nach Loch Garman und verkaufte sie an Sklavenschiffe, die sie Gott weiß wohin brachten.«
»Aber Gormgilla und dieses Mädchen waren doch Novizinnen in der Abtei«, widersprach die Äbtissin.
»Dieses Mädchen hat selbst ausgesagt, daß sie Novizin ist.«
»Fial hat uns gerade erklärt, daß sie es nicht waren. Erzähl uns, Fial, von der Nacht, als Gabráns Schiff auf der Fahrt den Fluß hinab bei der Abtei anlegte.«
Das Mädchen blinzelte, aber seine Tränen waren inzwischen versiegt.
»Gormgilla war jünger als ich, erst zwölf. Als wir an Bord gebracht wurden, hatte Gabrán ein Auge auf sie geworfen und…«
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