09 - Vor dem Tod sind alle gleich
einen nahen Tisch, auf dem Wein und Met standen.
Fidelma schüttelte rasch den Kopf. »Die Angelegenheit, über die ich mit dir sprechen möchte, ist dringend.«
»Dringend?« Fianamail hob fragend die Augenbrauen. »Was könnte das für eine Angelegenheit sein?«
»Die Angelegenheit Bruder Eadulfs von Seaxmund’s Ham. Hast du nicht die Botschaften von meinem Bruder erhalten, in denen er die Besorgnis von Cashel ausdrückte und bat…«
Fianamail richtete sich plötzlich auf und zog die Brauen zusammen.
»Eadulf? Der Angelsachse? Ich bekam eine Botschaft, aber ich verstand sie nicht. Warum ist Cashel an dem Angelsachsen interessiert?«
»Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham ist ein Gesandter zwischen meinem Bruder und Theodor von Canterbury«, erklärte sie ihm. »Ich bin hergekommen, um ihn gegen das zu verteidigen, dessen er angeklagt wird.«
Fianamails Lippen öffneten sich leicht, wie aus Freude.
»Ich habe das Verfahren so lange hinausgezögert, wie ich konnte, aus Rücksicht auf deinen Bruder, den König. Leider vergeht die Zeit.«
Fidelma erschauerte. »Wir hörten auf dem Weg ein Gerücht, daß schon gegen ihn verhandelt worden sei. Nach dem Einspruch meines Bruders hätte man doch sicher mit dem Verfahren bis zu meiner Ankunft warten können?«
»Selbst ein König kann ein Gerichtsverfahren nicht unbegrenzt verschieben. Das Gerücht, das du gehört hast, stimmt: Er ist bereits schuldig gesprochen und verurteilt. Es ist alles vorbei. Nun braucht er deine Verteidigung nicht mehr.«
Kapitel 3
Fidelmas Gesicht war kreidebleich, in ihm spiegelte sich die furchtbare Angst, die sie erfüllte. Es war, als wäre alles Blut aus ihrem Körper gewichen.
»Alles vorbei? Heißt das…?« Sie schluckte und konnte kaum die Frage formulieren, die ihr Denken beherrschte.
»Der Angelsachse wird morgen mittag hingerichtet«, sagte Fianamail gleichgültig.
Eine Welle der Erleichterung durchlief Fidelma.
»Dann ist er also noch nicht tot?« Die Worte kamen wie ein schaudernder Seufzer. Für den Augenblick getröstet, schloß sie die Augen.
Der junge König schien ihre Gefühle nicht wahrzunehmen. Er stieß mit dem Fuß ein Scheit zurück, das aus dem Kamin gefallen war.
»Er ist so gut wie tot. Die Angelegenheit ist abgeschlossen. Du hast die lange Reise umsonst gemacht.«
Fidelma beugte sich vor und schaute Fianamail fest ins Gesicht.
»Ich betrachte die Angelegenheit noch nicht als abgeschlossen. Auf der Reise hierher habe ich eine Geschichte gehört. Es ist eine Geschichte, die ich vom König von Laigin nicht glauben kann. Man hat mir gesagt, du hättest das einheimische Recht abgeschafft und angeordnet, daß die Strafen nach den neuen Bußgesetzen von Rom verhängt werden sollten. Stimmt es, daß du so etwas verfügt hast?«
Fianamail lächelte immer noch, doch ohne Wärme.
»Als Strafe wurde die Hinrichtung bestimmt, Fidelma von Cashel. Das ist so entschieden worden. Darin habe ich mich von meinem geistlichen Berater und von meinem Brehon leiten lassen. Laigin wird bei der Befreiung von unseren alten heidnischen Bräuchen vorangehen. Christliche Strafen sollen die Verbrechen in diesem Lande sühnen. Ich will beweisen, wie christlich mein Königreich Laigin geworden ist. Es bleibt beim Todesurteil.«
»Ich glaube, du vergißt das Gesetz, Fianamail von Laigin. Selbst die Bußgesetze sehen das Recht vor, Berufung einzulegen.«
»Berufung?« Fianamail machte ein erstauntes Gesicht. »Aber das Urteil ist von meinem Brehon gefällt worden. Ich habe es bestätigt. Dagegen ist keine Berufung möglich.«
»Es gibt einen höheren Richter als deinen Brehon«, erklärte ihm Fidelma. »Der Oberrichter von Éireann kann herbeigerufen werden. Ich glaube, er wird einiges zur Frage der Bußgesetze zu sagen haben.«
»Mit welcher Begründung willst du eine solche Berufung beim Oberrichter der fünf Königreiche einlegen?« fragte Fianamail spöttisch. »Du hast keine Ahnung von dem Fall und von der Beweislage. Außerdem findet die Hinrichtung morgen statt, und wir können nicht eine Woche damit warten, bis der Oberrichter eintrifft.«
Sein selbstzufriedenes Lächeln reizte Fidelma zum Zorn, und sie bemühte sich, ihn zu beherrschen.
»Bis ich den Fall untersucht habe, appelliere ich an dich, die Vollstreckung des Urteils aufzuschieben, mit der Begründung, daß Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham möglicherweise nicht richtig verteidigt wurde und daß das Gericht seine Rechte nicht genügend berücksichtigt
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