09 - Vor dem Tod sind alle gleich
Er hob die Hände in einer hilflosen Geste und ließ sie wieder sinken.
»Was verlangst du eigentlich?« fragte er nach kurzem Zögern. »Heißt das, daß du Immunität für den Angelsachsen beanspruchst? Darauf will und werde ich nicht eingehen. Dazu war sein Verbrechen zu gräßlich. Was willst du?«
»Letzten Endes möchte ich dich bitten, zu den Gesetzen unseres Landes zurückzukehren«, erwiderte Fidelma. »Die fremden Bußgesetze entsprechen nicht unserem Denken. Aus Rache töten ist nicht unser Recht…«
Fianamail hob die Hand und unterbrach ihre Rede.
»Ich habe dem Abt Noé, meinem geistlichen Berater, und Bischof Forbassach, meinem Brehon, mein Wort gegeben, daß die vom Glauben vorgesehenen Strafen verhängt werden – Leben um Leben. Bringe deine Gründe für eine Berufung im Fall des Angelsachsen vor, aber gib dir keine Mühe, mich zur Änderung meines Erlasses über das Gesetz zu bewegen.«
Fidelma fühlte ihren Puls schneller schlagen, als sie merkte, daß seine Entschlossenheit bröckelte.
»Ich ersuche dich darum, die Hinrichtung zu verschieben, damit die Einzelheiten des Falles untersucht werden können, um sicherzugehen, daß dem Gesetz Genüge getan worden ist.«
»Ich kann das Urteil meines Brehons nicht umstoßen; das steht sowieso nicht in der Macht des Königs.«
»Gib mir Zeit, damit ich das Verbrechen, dessen ihr Eadulf für schuldig haltet, untersuchen kann und die Tatsachen prüfen auf der Basis der Vermutung, daß er unter dem Schutz eines fer taistil gehandelt hat, eines königlichen Beauftragten mit Immunität. Gib mir die Vollmacht, eine solche Untersuchung durchzuführen.«
Sie benutzte den juristischen Ausdruck fer taistil, der wörtlich »Reisender« bedeutete, der aber speziell einen Abgesandten zwischen zwei Königen bezeichnete.
Fianamail kehrte zu seinem Stuhl zurück. Mit gefurchter Stirn überdachte er den Fall. Es war klar, daß eine Zustimmung zu ihrer Forderung ihm Sorgen machte, er jedoch kein Argument dagegen finden konnte.
»Ich will mich nicht schon wieder mit deinem Bruder streiten«, gab er schließlich zu. »Ich will aber auch nichts tun, was den Verfahrensregeln und der Rechtsprechung in meinem Königreich zuwiderläuft.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. Nach einer Weile seufzte er tief. »Ich gebe dir Zeit, das Verbrechen zu untersuchen, dessen der Angelsachse schuldig befunden wurde. Wenn du etwas am Vorgehen und am Urteil unserer Gerichte findest, was nicht in Ordnung ist, will ich deine Berufung mit dieser Begründung zulassen.«
Fidelma unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen.
»Mehr verlange ich nicht. Aber ich brauche deine Vollmacht.«
»Ich lasse Feder und Pergament kommen und stelle sie aus«, stimmte er zu, nahm eine kleine silberne Handglocke und läutete.
»Gut.« Fidelma fühlte, wie ihr eine Last von den Schultern fiel. »Wieviel Zeit gewährst du mir für meine Untersuchung?«
Ein Diener trat ein und erhielt den Auftrag, die Schreibgeräte zu bringen. Die Augen des jungen Königs blickten kalt.
»Wie lange? Nun, du hast Zeit bis morgen mittag, dann soll das Urteil an dem Angelsachsen vollstreckt werden.«
Fidelmas vorübergehende Erleichterung fand ein plötzliches Ende, als sie erkannte, welche Beschränkung Fianamail ihr auferlegte.
»Na also«, lächelte Fianamail. »Du kannst nicht behaupten, ich hielte mich nicht an die Bräuche unseres Landes. Ich gebe dir Zeit, eine Berufung vorzubereiten. Das wolltest du doch.«
Der Diener kam mit den Schreibgeräten herein, und der König kritzelte schnell etwas auf das Pergament. Fidelma nahm sich Zeit zur Antwort.
»Gibst du mir nicht mehr als vierundzwanzig Stunden? Ist das Gerechtigkeit?« Sie sprach langsam und bemühte sich, ihren aufsteigenden Zorn nicht ausbrechen zu lassen.
»Ganz gleich, wieviel Gerechtigkeit, es ist jedenfalls Gerechtigkeit«, erwiderte Fianamail rachsüchtig.
»Mehr schulde ich dir nicht.«
Einen Moment schwieg Fidelma und überlegte, womit sie noch an ihn appellieren könnte. Dann wurde ihr klar, daß es nichts mehr zu sagen gab. Der junge Mann besaß die Macht, und sie hatte keine größere Macht zur Verfügung, um sein Rachegelüst zu brechen.
»Nun gut«, sagte sie schließlich. »Wenn ich Gründe für eine Berufung finde, wirst du dann die Hinrichtung aufschieben bis zum Eintreffen des Oberrichters Barrán, damit er den Fall prüfen kann?«
Fianamail rümpfte die Nase. » Wenn du Gründe für eine Berufung findest und meine Gerichte sie
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