09 - Vor dem Tod sind alle gleich
gehabt?« drang Fidelma in sie.
»Sie war ein Schützling Abt Noés in Rom.«
»Ich wußte nicht, daß Noé jemals Geistlicher in Rom war.«
»Er machte nur eine Pilgerreise und hielt sich nicht lange dort auf. Da lernte er die Äbtissin kennen, glaube ich, und brachte sie mit zurück als seine Nachfolgerin. Nach seiner Rückkehr kündigte er an, er wolle sich aus der Abtei zurückziehen.«
»Das ist ungewöhnlich«, bemerkte Fidelma. Dann fiel ihr eine andere Möglichkeit ein. »Ist Fainder vielleicht mit Noé verwandt?«
Die Bevorzugung von Verwandten war auch in religiösen Häusern nicht unbekannt, und oft gelangten Äbte, Äbtissinnen und sogar Bischöfe durch dasselbe Nachfolgesystem ins Amt wie die Könige und der Adel. Sie mußten von entsprechender Abstammung sein und wurden dann von ihren derbhfine gewählt, die sich gewöhnlich aus drei Generationen einer Familie zusammensetzten, die von einem gemeinsamen Urgroßvater abstammte. Oft wurden auf diese Art und Weise Söhne, Enkel, Neffen und Vettern oder Kusinen zu Nachfolgern von Äbten oder Äbtissinnen gemacht.
Als Étromma nicht auf ihre Frage reagierte, stellte Fidelma eine andere.
»Bist du zufrieden mit der Art, wie die Äbtissin das Kloster leitet? Ich meine, gefällt dir Fainders Bestreben, nach den Bußgesetzen und nach der römischen Form der Verwaltung zu herrschen? Es überrascht mich, daß Abt Noé diese neue Entwicklung absegnet, denn ich dachte immer, er wäre ein Anhänger der Regel Colmcilles.«
Schwester Étromma blieb einen Moment stehen und veranlaßte Fidelma, dasselbe zu tun. Die Verwalterin schaute sich um, als fürchte sie heimliche Lauscher, ehe sie antwortete.
»Schwester«, flüsterte sie, »es ist nicht klug, hier von solchen Konflikten zu reden. Über die Differenzen zwischen der irischen und der römischen Kirche wird an diesem Ort nicht gesprochen. Seit Fainder unsere Äbtissin geworden ist, hat sie Macht und Reichtum erlangt. Es ist nicht angebracht, Kritik zu äußern.«
»Reichtum?« forschte Fidelma.
Schwester Étromma zuckte die Achseln. »Die Äbtissin verachtet materiellen Besitz nicht, wenn sie auch anderen die Strenge der Bußgesetze predigt. Seit ihrer Ankunft hier scheint sie ein großes Vermögen erworben zu haben. Vielleicht sollte man an die Reichen und Mächtigen denken, die sie begünstigen. Aber mir steht es nicht zu, Kritik zu üben.«
Fidelma war es klar, daß die Verwalterin einen Groll gegen die Äbtissin hegte.
Doch Fidelma wollte die Frage der Vorurteile Schwester Étrommas nicht weiter verfolgen. Ihr lag mehr daran, zu erfahren, wie es Eadulf erging.
Schwester Étromma lief rasch den Gang weiter.
»Weißt du, was mit Bruder Eadulf geschehen ist?« Fidelma griff dieses Thema nach einer kleinen Pause auf.
»Er soll morgen hingerichtet werden.«
»Ich meine die Dinge, die zu seinem Prozeß geführt haben.«
»Ich weiß, daß er bei seiner Ankunft ganz angenehm wirkte und unsere Sprache gut beherrschte.«
»Du bist ihm also begegnet, als er hier ankam?«
»Bin ich nicht die rechtaire der Abtei? Es ist meine Pflicht, alle Reisenden zu begrüßen, besonders diejenigen, die unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen wollen.«
»Wann kam er denn hier an?«
»Vor ungefähr drei Wochen. Er stand am Tor und bat um Unterkunft für eine Nacht. Er sagte, er wolle auf einem Flußschiff hinunter zum Loch Garman fahren. Dort wollte er ein Schiff suchen, das ihn ins Land der Angelsachsen zurückbrächte. Viele angelsächsische Schiffe laufen heutzutage Loch Garman an.«
»Was geschah dann?«
»Davon weiß ich nur wenig. Er kam, wie gesagt, am späten Nachmittag an, und ich gab ihm ein Bett im Gästehaus. Er nahm am Gottesdienst teil und aß eine Mahlzeit. In der Nacht wurde ich von der Äbtissin geweckt. Anscheinend war die Leiche einer jungen Novizin am Kai außerhalb der Abtei gefunden worden. Der Hauptmann der Wache hatte sie entdeckt. Von den Schiffen, die dort anlegen, wird viel gestohlen. Ein ausgedehnter Handel läuft über die Stadt. Deshalb wird an den Kais ständig Wache gehalten. Dieses junge Mädchen war vermutlich vergewaltigt und dann erdrosselt worden. Es wurde Alarm geschlagen. Die Äbtissin forderte mich auf, sie zu dem Nachtlager des Angelsachsen zu führen.«
Fidelma runzelte die Stirn. »Warum zu dem Angelsachsen? Wieso verfiel die Äbtissin gerade auf ihn?«
Schwester Étromma blieb ungerührt. »Ganz einfach. Er war erkannt worden.«
»Erkannt? Von wem und wie?« Fidelma
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