09 - Vor dem Tod sind alle gleich
gegen den hier spürbaren Wunsch nach Rache einlegen kann.«
Wieder blieb Äbtissin Fainders Gesicht ohne Regung, sie beherrschte jede Reaktion, die Fidelmas Stich hervorrufen könnte.
»Vielleicht kennst du die Art des furchtbaren Verbrechens nicht, dessen der Angelsachse für schuldig befunden wurde?«
»Man hat es mir gesagt, Mutter Äbtissin. Der Bruder Eadulf, den ich kenne, könnte das Verbrechen nicht begangen haben, das man ihm vorwirft.«
»Nein?« Die düstere Miene der Äbtissin Fainder wurde spöttisch. »Wie viele Mütter, Schwestern oder … Geliebte… von Mördern mögen das wohl schon behauptet haben?«
Fidelma machte eine Bewegung des Unbehagens.
»Ich bin nicht…«, setzte sie an. Dann hob sie trotzig das Kinn, entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. »Ich würde mit meiner Untersuchung gern so bald wie möglich beginnen.«
»Nun gut. Schwester Étromma ist die Verwalterin der Abtei, sie wird dich dabei unterstützen.«
Die Äbtissin langte nach einer Handglocke. Ihr Läuten war kaum verklungen, als eine Nonne eintrat. Sie war klein und blond, mit angenehmen Zügen, doch sie trippelte wie ein Vogel, die Hände in den Falten ihrer Kutte verborgen. Es war dieselbe Frau, die Fidelma am Tor der Abtei empfangen und zum Zimmer der Äbtissin Fainder geleitet hatte. Äbtissin Fainder wandte sich an sie.
»Schwester, du hast schon die Bekanntschaft unserer … unserer hochstehenden Besucherin gemacht.« Nur das winzige Zögern verriet die Ironie der Äbtissin. »Ihr wird jede Unterstützung gewährt, die sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden braucht. Sie untersucht das Verbrechen des Angelsachsen, um sicherzugehen, daß wir gegen kein Gesetz verstoßen haben.«
Schwester Étromma sah Fidelma überrascht mit großen Augen an, dann wandte sie sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung zur Äbtissin zurück.
»Ich werde mich darum kümmern, Mutter Äbtissin«, murmelte sie. Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Das ist ungewöhnlich, nicht wahr? Der Angelsachse ist doch schon verurteilt.«
»Du wirst dich darum kümmern, Schwester Étromma«, fuhr die Äbtissin sie an, »denn sie besitzt eine Vollmacht vor Fianamail, der wir uns anscheinend beugen müssen.«
Die kleine Verwalterin senkte den Kopf. » Fiat voluntas tua, Mutter Äbtissin.«
»Ich sehe dich sicher später noch, Schwester Fidelma; vielleicht in der Kapelle zum Gebet?«
Fidelma verneigte sich vor der Äbtissin, ließ ihre Frage aber unbeantwortet.
Schwester Étromma eilte ihr voran. Außerhalb des Zimmers der Äbtissin entspannte sich die Verwalterin merklich.
»Womit kann ich dir dienen, Schwester Fidelma?« fragte sie mit weniger atemloser Stimme als zuvor.
»Ich möchte sofort mit Bruder Eadulf sprechen.« Schwester Étrommas Augen weiteten sich. »Mit dem Angelsachsen? Den willst du aufsuchen?«
»Ist das ein Problem? Die Äbtissin hat gesagt, ich solle jede Unterstützung erhalten.«
»Natürlich.« Schwester Étromma sah verwirrt aus.
»Daran habe ich nicht gleich gedacht. Komm, ich zeige dir den Weg.«
»Bist du hier schon lange Verwalterin?« fragte Fidelma, während sie durch die düsteren, gewölbten Gänge der Abtei schritten.
»Ich bin hier rechtaire seit zehn Jahren. In die Abtei kam ich schon als Kind, mit meinem Bruder zusammen.«
»Zehn Jahre rechtaire « , überlegte Fidelma. »Das ist eine ganz schöne Zeit. Kennst du Äbtissin Fainder schon lange? Ich weiß, daß sie erst kürzlich aus Rom zurückgekehrt ist, aber kanntest du sie, bevor sie dorthin ging?«
»Als sie vor drei Monaten in die Abtei kam«, sagte Schwester Étromma, »war sie den meisten von uns fremd. Vor ihr war Noé unser Abt. Wir sind ein gemischtes Haus, weißt du. Wie Kildare.«
Fidelma quittierte das mit einem kurzen Lächeln.
»Ich weiß. Warum hat sich Abt Noé entschlossen, von der Leitung des Klosters zurückzutreten?«
»Es war der König selbst, der Noé ersuchte, sein geistlicher Berater zu werden, so hat man es uns jedenfalls erzählt. Er hat noch Zimmer in der Abtei, aber meist hält er sich im Königspalast auf. Die Leitung der Abtei ging an Fainder über, die dann zu unserer Äbtissin ernannt wurde.«
Spürte Fidelma eine leichte Bitterkeit in ihrem Ton?
»Warum wurde Fainder dazu ernannt, wenn sie vorher gar nicht dieser Gemeinschaft angehörte?«
Schwester Étromma gab darauf keine Antwort.
»Als rechtaire der Abtei seit zehn Jahren, könnte man meinen, hättest du einen größeren Anspruch darauf
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