09 - Vor dem Tod sind alle gleich
eindrucksvoll und bedrohlich. Das mußte sich Fidelma eingestehen, obgleich sie sofort eine unerklärliche Abneigung gegen diese Frau empfand. Von dem Augenblick an, als sie in das Zimmer geführt wurde, in dem die Äbtissin kerzengerade in einem hohen, geschnitzten Eichensessel vor einem langen Holztisch saß, der ihr als Schreibtisch diente, spürte Fidelma die Ausstrahlung ihrer Gegenwart. Hochmütig und streitsüchtig, vermittelte sie selbst im Sitzen den Eindruck, von großer Statur zu sein, was von ihrer Hagerkeit noch verstärkt wurde. Doch als sie sich erhob, um Fidelma zu begrüßen, bestätigte sich dieser Eindruck nicht. Die hochgewachsene Fidelma überragte die nur mittelgroße Äbtissin. Der Anschein von Größe entstand einfach nur durch ihre Persönlichkeit und ihre Haltung, durch nichts weiter.
Die Hand, die sie Fidelma entgegenstreckte, war kräftig, mit hervortretenden Knochen und schwieliger Haut, wie sie eher einer Landarbeiterin als einer Nonne gehören mochte. Fainder war dunkelhaarig, und Fidelma schätzte sie auf Mitte Dreißig. Ihr Gesicht war ebenmäßig, doch mit etwas harten Zügen. Die schwarzen Augen lagen tief in den Höhlen, und eines schielte ganz leicht. Aber nicht dadurch wirkte sie unheimlich, sondern weil sie selten zwinkerte. Selbst mit dem kleinen Fehler schien sich der Blick der dunklen Augen in Fidelmas Gesicht zu bohren und wich nicht. Ein schwächerer Charakter als Fidelma hätte wohl die Augen verlegen niedergeschlagen.
Als Äbtissin Fainder sprach, klang ihre Stimme weich moduliert und mild und wiegte einen in trügerischer Sicherheit. Doch Fidelma, die ihre Menschenkenntnis über Jahre geschult hatte, spürte die harten Töne hinter der sanften Sprache. Fainder würde keinen Widerspruch gegen ihre Meinung dulden, dessen war sich Fidelma absolut sicher.
An der Art, wie ihr die Äbtissin die Hand hinhielt, erkannte Fidelma, daß sie sich nach römischer Sitte verneigen und den Amtsring küssen sollte. Sie nahm jedoch die Hand und neigte nur leicht den Kopf nach Sitte der irischen Kirche.
» Stet fortuna domus « , sprach sie feierlich.
Für einen Moment funkelten Äbtissin Fainders Augen vor Ärger, doch der Ausdruck schwand so schnell, daß nur ein scharfer Beobachter ihn bemerkt hätte.
» Deo juvante « , antwortete sie kurz, nahm wieder ihren Platz ein und winkte Fidelma zu einem Stuhl vor dem Tisch. Fidelma setzte sich.
»Du bist also Fidelma von Cashel?« Die Äbtissin lächelte, doch ihre schmalen, blutleeren Lippen öffneten sich dabei nur leicht. »Als ich in Rom war, wurde auch von dir gesprochen.«
Fidelma antwortete nicht. Dazu hatte sie nichts zu sagen. Statt dessen wies sie auf das Pergament mit Fianamails Anweisung und Siegel.
»Ich komme in einer äußerst dringenden Angelegenheit, Mutter Äbtissin.«
Die Äbtissin nahm keine Notiz von dem Pergament, das ihr vorgelegt worden war. Sie saß aufrecht im Sessel, die Hände mit den Flächen nach unten auf dem Tisch, in derselben Haltung wie beim Eintritt Fidelmas.
»Du hast einen Ruf als dálaigh, Schwester«, fuhr Fainder fort. »Doch bist du auch eine Nonne. Ich habe gehört, du hast dich veranlaßt gefühlt, die Abtei Kildare zu verlassen, weil du anderer Meinung warst als die Äbtissin Ita.«
Sie hielt inne in Erwartung einer Antwort, doch hatte sie ihre Bemerkung als Feststellung formuliert. Fidelma äußerte sich nicht dazu.
»Wenn man Nonne wird, Fidelma von Cashel«, sagte die Äbtissin mit leichter Betonung des Titels, der Fidelma als Prinzessin der Eóghanacht zustand, »dann hat man in erster Linie die Pflicht, den Regeln des Ordens zu gehorchen. Die oberste Regel ist der Gehorsam, denn es ist die Pflicht einer Nonne, nicht einmal in Gedanken anderer Meinung zu sein, nicht zu sagen, was man will, und nicht mit völliger Freizügigkeit zu reisen. Die Beachtung der Regel ist das Kennzeichen eines gottgefälligen Lebens.«
Fidelma wartete geduldig, bis die Äbtissin ihre Predigt beendet hatte, und dann sprach sie deutlich und mit Bedacht.
»Ich bin hier in meiner Eigenschaft als dálaigh, Mutter Äbtissin, und mit Vollmacht meines Bruders Colgú, des Königs von Cashel. Was ich dir vorgelegt habe, ist die Vollmacht König Fianamails von Laigin.« Äbtissin Fainders Ton wurde noch strenger, und sie schenkte dem Pergament wie bisher keinen Blick.
»Du bist jetzt eine Nonne in der Abtei Fearna – meiner Abtei –, und jede Nonne ist zum Gehorsam verpflichtet, Schwester.«
»Wir sind hier
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