09 - Vor dem Tod sind alle gleich
bemühte sich, ihr Entsetzen nicht zu verraten.
»Der Hauptmann der Wache hatte der Äbtissin erklärt, daß der Angelsachse der Täter sei. Ich führte die Äbtissin, den Hauptmann der Wache und ein paar andere ins Gästehaus. Der Angelsachse war im Bett und tat so, als ob er schliefe. Als man ihn aus dem Bett holte, fand man Blutflecke an ihm und ein Stück Stoff, das von der Kutte der toten Novizin abgerissen war.«
Fidelma unterdrückte ein Stöhnen. Das sah übler aus, als sie sich vorgestellt hatte.
»Das ist schlimm genug, aber du hast mir noch nicht gesagt, wie er erkannt wurde. Ich verstehe nicht, wie der Hauptmann der Wache behaupten konnte, der Angelsachse sei der Täter, wenn er, wie du sagst, nicht auf frischer Tat ertappt, sondern schlafend im Gästehaus gefunden wurde. Wie heißt übrigens dieser Hauptmann der Wache? Mit dem möchte ich sprechen.«
»Sein Name ist Mel.«
Diese Auskunft überraschte Fidelma.
»Ist das derselbe Mel, der jetzt die Palastwache Fianamails befehligt? Der Bruder von Lassar, der Wirtin des Gasthauses zum Gelben Berg?«
Schwester Étromma schaute sie verblüfft an. »Den kennst du also schon?«
»Ich wohne im Gasthaus zum Gelben Berg.«
»Nach seiner erfolgreichen Festnahme des Angelsachsen hat ihn der König befördert. Vorher war er Hauptmann der Wache am Hafen.«
»Eine schöne Beförderung«, bemerkte Fidelma trocken.
»Fianamail ist manchmal großzügig denen gegenüber, die ihm gute Dienste leisten«, meinte die Verwalterin. Hörte Fidelma einen leicht ironischen Ton heraus?
»Ich frage dich nochmals, was hat den Hauptmann der Wache so unfehlbar ans Bett Bruder Eadulfs geführt, der dann auch noch die belastenden Beweisstücke bei sich hatte?«
Schwester Étromma verzog das Gesicht. »Es hieß, ein Mönch sei gesehen worden, wie er vom Kai zur Abtei rannte, kurz bevor die Leiche entdeckt wurde.«
»Wie viele Mönche gibt es in der Abtei Fearna? Einhundert? Zweihundert?« Fidelma konnte den Zweifel in ihrer Stimme nicht verbergen.
»Fast zweihundert«, erklärte Schwester Étromma ungerührt.
»Zweihundert? Aber die Spur führte geradewegs zu dem Angelsachsen. Das war anscheinend ein großartiges Stück Aufklärungsarbeit von Seiten des Hauptmanns der Wache.«
»Nicht so ganz. Hat man dir das nicht berichtet?« Fidelma bereitete sich auf eine neue Enthüllung vor.
»Es gibt vieles, was man mir nicht berichtet hat. Was genau meinst du?«
»Nun, es gibt eine Augenzeugin der Tat.«
Fidelma schwieg einen Moment. »Eine Augenzeugin?« fragte sie langsam. »Die die Vergewaltigung und den Mord gesehen hat?«
»Allerdings. Es war noch eine andere Novizin dort am Kai zusammen mit der, die umgebracht wurde.«
»Willst du damit sagen, daß diese Novizin… Wie heißt sie?«
»Die Augenzeugin?«
»Ja.«
»Fial.«
»Und wie heißt das ermordete Mädchen?«
»Gormgilla.«
»Willst du also sagen, daß Fial tatsächlich beobachtete, wie ihre Freundin Gormgilla vergewaltigt und ermordet wurde, und Bruder Eadulf als den Täter erkannte?«
»Ja, so war es.«
»Und sie hat ihn deutlich erkannt? Ohne jeden Zweifel?«
»Sie war sich völlig sicher. Es war der Angelsachse.« Fidelma spürte, wie Verzweiflung sie überkam. Bisher hatte sie gedacht, es sei alles ein absurder Irrtum. Auch als sie die Anklage gegen Eadulf erfuhr, den Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes, noch dazu eines zwölfjährigen Mädchens, also eines Mädchens vor dem Alter der Wahl, hatte sie ihre Meinung nicht geändert, denn sie glaubte fest an Eadulf. Es lag einfach nicht in seiner Natur, so etwas zu tun. Es mußte ein törichter Irrtum sein, eine Verwechslung von Personen oder eine falsche Verbindung von Tatsachen.
Jetzt stand sie einer überwältigenden Masse von Beweisen gegenüber, nicht nur den materiellen Beweisen von Blutflecken und zerrissener Kleidung, sondern vor allem der Aussage einer Augenzeugin. Für Eadulf sah es verheerend aus. Was würde Oberrichter Barrán sagen, wenn er auf ihr Verlangen nach Fearna käme und feststellen müßte, daß sie keine Gründe für eine Berufung zu bieten hätte? Könnte es sein, daß Eadulf trotz ihres Glaubens an ihn schließlich doch schuldig war? Nein! So gut kannte sie Eadulf doch wohl?
Schwester Étromma führte sie durch eine gewölbte Tür in einen großen viereckigen Hof. Dort erblickte Fidelma eine hölzerne Plattform. Sie brauchte nicht zu fragen, wozu die gräßliche Vorrichtung diente. Die Leiche eines jungen Mönchs hing
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