09 - Vor dem Tod sind alle gleich
nicht in Rom, Mutter Äbtissin«, erwiderte Fidelma in ruhigem Ton, dessen Schärfe aber eine deutliche Warnung vermittelte. »Wie ich höre, bist du erst kürzlich von dort zurückgekehrt, und da ist es verzeihlich, daß dir die Gesetze dieses Landes nicht mehr ganz im Gedächtnis sind. Ich bin hier als dálaigh mit dem Grad eines anruth. Ich brauche dich sicher nicht an das Gesetz über Ränge und Vorrechte zu erinnern?«
Inhaberin eines akademischen Grades, der nur einen Grad unter dem höchsten lag, den die weltlichen und kirchlichen Hochschulen verliehen, besaß Fidelma als Rechtsgelehrte wie auch als Schwester eines Königs einen höheren Rang als eine Äbtissin.
Zum erstenmal blinzelte Fainder. Es war eine eigenartig drohende Geste, als wenn eine Schlange für einen Moment die Augen verhüllt.
»In dieser Abtei«, sagte Fainder leise, »richtet sich unser Leben nach den Bußgesetzen. Gott sei Dank haben wir mit Fianamail auch einen fortschrittlichen König, der eingesehen hat, wie weise es ist, die Regeln der Bußgesetze als christliche Lebenspflicht auf das ganze Volk auszudehnen.«
Fidelma stand auf, beugte sich vor und nahm bedachtsam das ungelesene Pergament von Äbtissin Fainders Tisch. Ihre Geduld war erschöpft.
»Nun gut. Ich fasse das als Weigerung auf, der Vollmacht des Rates des Oberrichters und des Großkönigs Folge zu leisten. Du erweist deiner Abtei einen schlechten Dienst, Fainder. Es überrascht mich, daß du eine richterliche Untersuchung auf dich laden willst, indem du meine Vollmacht und die Anweisung deines Königs Fianamail mißachtest.«
Fidelma hatte sich schon zur Tür gewandt, als Äbtissin Fainders Stimme sie mit einem eigenartigen Stakkato zurückhielt.
»Halt!«
Die Äbtissin saß noch in derselben Haltung da, die Hände auf dem Tisch. Fidelma schien es, als sei ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt, jede Linie war scharf eingegraben.
Fidelma wartete an der Tür.
»Vielleicht« – die Äbtissin suchte anscheinend nach einer Formulierung, mit der sie aus der Klemme herauskommen konnte, in die Fidelmas Weigerung, sich einschüchtern zu lassen, sie gebracht hatte –, »vielleicht habe ich meine Worte nicht ganz passend gewählt. Zeig mir die Vollmacht von Fianamail.«
Fidelma kehrte zum Tisch zurück und legte das Schriftstück wortlos wieder vor die strenge Frau hin. Fainder las es rasch, wobei ein flüchtiger Schatten über ihr Gesicht lief. Dann blickte sie zu Fidelma auf.
»Gegen die Vollmacht meines Königs kann ich keinen Einwand erheben. Ich informiere dich lediglich darüber, wie diese Abtei geführt wird, und über mein Bestreben, sie auch weiter nach den Bußgesetzen zu führen.«
Nachdem sie eine Formulierung gefunden hatte, die ihr recht war, ging Fainder wieder zu dem sanften, begütigenden Ton über, der sofort Fidelmas Mißtrauen erregte.
»Dann habe ich also deine Erlaubnis, Bruder Eadulf aufzusuchen und meine Untersuchung zu führen?«
Äbtissin Fainder wies auf den Stuhl, von dem Fidelma gerade aufgestanden war.
»Setz dich wieder, Schwester, und wir besprechen die Angelegenheit dieses Angelsachsen. Worum geht es dir bei ihm?«
»Mir geht es um Gerechtigkeit«, erwiderte Fidelma und hoffte, daß die Wärme, die sie auf ihren Wangen spürte, nicht als verlegenes Erröten erschien.
»Du kennst diesen Angelsachsen also? Natürlich«, wieder öffneten sich die Lippen zum Lächeln, »ich hörte in Rom, daß du in Begleitung eines angelsächsischen Bruders warst. War es vielleicht derselbe Mann?« Fidelma ließ sich auf dem Stuhl nieder und sah die Äbtissin gelassen an.
»Ich kenne Bruder Eadulf seit der Synode in der Abtei von Whitby. Seit dem vorigen Jahr diente er als Gesandter Theodors von Tarsus, des Erzbischofs von Canterbury im Land der Angelsachsen, bei meinem Bruder, dem König von Cashel. Mein Bruder hat mich hergeschickt, damit ich seine Verteidigung übernehme.«
»Verteidigung?« Äbtissin Fainder rümpfte die Nase.
»Du hast doch wohl erfahren, daß er schuldig gesprochen und mit der seinem Verbrechen angemessenen Strafe belegt wurde? Die Bußgesetze sehen die Todesstrafe vor, und die Hinrichtung findet morgen mittag statt.«
Fidelma beugte sich leicht vor.
»Da er der Gesandte eines Königs und eines Bischofs ist, besitzt er nach unserem Gesetz gewisse Rechte, die nicht verletzt werden dürfen. Ich habe die Erlaubnis, seinen Fall zu untersuchen, um festzustellen, ob es Gründe für eine Berufung gibt, obgleich man wohl keine Berufung
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