090 - Moerderische Knochenhaende
Licht der Sterne nicht reichte.
Julia ging schneller. Sie konnte ihre eigenen Schritte deutlich auf dem Kies hören, die der Unbekannten jedoch nicht. Sie wollte sich umsehen, um zu überprüfen, wie weit sie sich schon vom Schloß entfernt hatte, aber sie konnte es nicht. Eine fremde Macht zwang sie, in der Nähe der Unheimlichen zu bleiben und an nichts anderes zu denken.
„Wer … wer bist du?“ fragte sie erneut, erhielt jedoch keine Antwort. Ihr war, als lache die Fremde leise. Ihre Angst verlor sich etwas, und sie versuchte, näher an sie heranzukommen, doch das gelang ihr nicht. Etwas Unbestimmbares befand sich zwischen ihnen, das sie nicht überwinden konnte.
Plötzlich tauchte die Kapelle vor ihnen in der Dunkelheit auf. Julias Herz klopfte schneller. Sie mußte an jenen unbegreiflichen Vorfall denken, der sich hier ereignet hatte. War das alles wirklich nur ein Traum gewesen? Sie glaubte es nicht, sie hatte es erlebt. Sie wußte es besser als Carlotta Vespari.
Und sie erinnerte sich an das, was ihre scheinbar tote Schwester gesagt hatte: „Du gehörst mir – für alle Ewigkeit.“
„Silvana?“ flüsterte sie.
Das Wesen antwortete nicht. Es glitt an der Kapelle vorbei und schwebte auf den kleinen Friedhof an der Straße zu. Es wurde etwas heller, so daß sich die Konturen der Fremden schärfer abzeichneten.
„Silvana – bist du es?“
Die andere wandte sich um, aber das Tuch, das sie sich über den Kopf gelegt hatte, beschattete ihr Gesicht, so daß Julia es nicht erkennen konnte.
Julia blieb ebenfalls stehen. Sie hielt den Atem an, sie fürchtete sich vor der anderen. Am liebsten wäre sie zum Schloß zurück geflohen, aber ihre Beine waren wie Blei, sie gehorchten ihr nicht. Ihr schien, als blicke die andere sie strafend an.
Endlich bewegte sie sich weiter. Sie betrat den kleinen Friedhof, auf dem seit Jahrhunderten die Angestellten des Schlosses beerdigt worden waren. Als sie unter einem Baum hindurchging, verschwand sie im Nichts. Julia eilte zu dem Baum, sah sie jedoch nicht.
„Hallo? Wo sind Sie?“
Niemand antwortete ihr.
Hatte sie alles nur geträumt? Ihr war plötzlich kalt. Mit bebenden Händen zog sie den Morgenrock unter dem Kinn zusammen. Sie fürchtete sich. Eine Katze lief über die Mauer, die den Friedhof zur Straße hin begrenzte. Julia sah ihre glühenden Augen, und sie hörte, wie ihre Krallen über das Gestein kratzten. Das Geräusch jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie hatte immer gedacht, daß Katzen sich lautlos bewegten.
Wie gebannt blickte Julia auf das Tier, bis es irgendwo im Dunkel verschwand.
„Julia?“
Sie fuhr herum. Die Dunkle stand vor ihr. Langsam streckte sie den rechten Arm aus und zeigte auf einen Weg. Das Mädchen gehorchte. Sie ging auf den hintersten Winkel des Friedhofs zu, bis sie vor einem offenen Grab stand. Eine eiskalte Hand legte sich ihr in den Nacken.
„Du bist am Ziel, Julia.“
„Ich … ich verstehe nichts.“
„Dieses Grab ist für dich bestimmt, Julia. Du wirst sterben.“
„Warum?“
„Weil du siebzehn bist.“
Das Tuch glitt zurück. Julia konnte das Gesicht der anderen sehen.
„Silvana?“
„Ich bin nicht Silvana.“
Das Gesicht der Frau wirkte durchsichtig. Julia glaubte, die Knochen und die Zähne sehen zu können.
„Wer bist du? Wer?“ Sie schrie es fast.
„Niemand, Julia, ich bin nur ein Bote, der dir sagen soll, daß du sterben wirst.“
„Ich will nicht sterben.“
„Es ist entschieden. Niemand wird dein Ende verhindern können, denn es gibt keine Macht, die stärker wäre.“
„Stärker als wer?“
„Du hast noch zwei Tage und zwei Nächte zu leben. Dann werden sie deinen Leichnam in dieses Grab legen und ihn mit Erde bedecken. Und sie werden versuchen, dich zu vergessen. Niemand wird deinen Namen mehr erwähnen, dann bist du ein Nichts.“
„Du lügst“, sagte Julia verzweifelt. „Du sagst nicht die Wahrheit.“
„Meinst du?“
„Ich weiß es, wenn ich einmal sterben sollte, wird man mich in der Familiengruft beisetzen – aber nicht hier.“
„Meinst du?“
„Ich bin eine di Cosimo“, rief Julia stolz.
Die Fremde kicherte boshaft, ihre Stimme verhallte. Julia sah, daß sie durchsichtig wurde. Ihre Konturen verwischten sich, und schließlich war sie ganz verschwunden. Julia stand allein vor dem offenen Grab.
Wind kam auf, er wirbelte ihr Haar durcheinander.
In der Nähe der Kapelle hustete jemand, sie hörte es ganz deutlich. Ängstlich preßte sie sich an einen
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