090 - Moerderische Knochenhaende
bernsteinfarbenen Augen sein“, stellte Piero di Abbaccio fest.
„Ganz bestimmt“, entgegnete der Alte. „In den Augen liegt das Geheimnis. Wer dieses Rätsel löst, der kann, vielleicht, Julia retten.“
„Bernstein vergeht, Kohle besteht. Dein Leben verrinnt, wie der Sand im Wind“, zitierte Carlotta Vespari.
„Was ist das?“ fragte Piero.
„Ein altes Lied. Julia spielte es auf einer Schallplatte. Die Marchesa wurde wütend, als sie es hörte.“
Piero di Abbaccio beugte sich über den Tisch und griff nach der Hand Beruttis.
„Angelo! Du bist der Hexenmeister, laß dir etwas einfallen. Wir dürfen nicht zusehen, wie Julia getötet wird.“
„Getötet wird… wird?“
Berutti legte den Zeigefinger an die Nase und nickte bedächtig.
„Das war ein kluges Wort, Piero, ein sehr kluges.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Carlotta.
„Nun, bisher haben wir doch angenommen, das tödliche Unglück gehe von den Mädchen mit den Bernsteinaugen aus. Das stimmt aber nicht. Ein ruheloser Geist führt sie in den Tod. Er ermordet die Mädchen, ihn müssen wir finden. Wenn wir das schaffen, dann können wir Julia retten.“
Carlotta Vespari mußte an die schattenhafte Gestalt denken, von der Julia erzählt hatte. Bis jetzt hatte sie immer noch daran gezweifelt, daß es diese Erscheinung wirklich gegeben hatte. Die Worte Beruttis beeindruckten sie tief. Es war falsch gewesen, Julia nicht ernst zu nehmen. Nur weil man ihr von Anfang an nicht geglaubt hatte, hatte alles seinen Fortgang genommen.
„Hoffentlich ist es noch nicht zu spät“, sagte Carlotta. „Ich bin sehr unruhig.“
„Julia sagte, ihr Tod sei ihr für morgen nacht vorausgesagt worden“, entgegnete Angelo Berutti, der nun doch eine schwere Zunge hatte. „Wir dürfen ruhig annehmen, daß der Geist sich an sein Wort hält. Er wird sich sein Opfer genau zu dem Zeitpunkt holen, den er vorausgesagt hat, und nicht früher. Wetten?“
„Ich wette nicht, wenn es um das Leben eines Menschen geht.“
„Sie sind ja auch stocknüchtern, mein Kind. In einem solchen Zustand kommen mir nie die richtigen Gedanken, jedenfalls nicht, wenn es um die Geisterwelt geht. In die kann man sich mit klarem Verstand nicht hineindenken, denn sie ist nicht so logisch wie unsere Welt.“
„Jetzt beginnt er zu philosophieren“, kündigte Piero di Abbaccio an. „Ich kann dir versprechen, daß es interessant wird.“
„Es zieht mich zum Schloß, Piero, ich möchte nach Julia sehen.“
„Du bleibst, mein Kind“, bestimmte der Alte. „Wenn du möchtest, daß ich dir helfe, dann bleibst du und hörst dir an, was ein weiser, alter Mann zu sagen hat.“
Piero nickte ihr unmerklich zu. Er schien davon überzeugt zu sein, daß Angelo Berutti ohnehin bald einschlafen würde. Aber in dieser Hinsicht sollte er sich gründlich irren, der Alte bewies eine unglaubliche Trinkfestigkeit.
Carlotta wurde immer unruhiger, sie mußte ständig an Julia denken. Es gefiel ihr nicht, daß sie so lange allein blieb.
Julia arbeitete wie eine Besessene.
Sie hatte vollkommen vergessen, wo sie war. Sie fürchtete sich nicht mehr vor der Dunkelheit, und nichts konnte sie mehr ablenken. Wild grub sie die Schaufel in das Erdreich, das im Laufe der Jahre hart geworden war und sich nur schwer aufreißen ließ.
Julia keuchte vor Anstrengung, aber sie gönnte sich keine Pause. Immer tiefer wühlte sie das Grab auf. Sie bemerkte nicht, daß eine schattenhafte Gestalt hinter ihr zwischen den Grabsteinen erschien und sie schweigend beobachtete. Sie schaufelte, als ob ihr Leben davon abhinge, den Sarg und die Leiche möglichst schnell freizulegen.
Hin und wieder stieß sie auf größere Steine, die sich nicht mit der kleinen Schaufel ausheben ließen. Dann packte sie mit bloßen Händen zu, scharrte sie frei und zog sie heraus. Ihre Fingernägel brachen ab, und an scharfen Kanten schnitt sie sich die Haut auf, aber sie merkte es nicht.
Dann endlich schabte die Schaufel über das morsche Holz des Sarges. Julia hielt keuchend inne und schnappte mühsam nach Luft. Jetzt spürte sie, wie sehr sie sich angestrengt hatte. Doch zugleich wurde ihr klar, daß sie nur noch eine wenige Zentimeter dicke Schicht Holz von der Lösung des Rätsels trennten. Wenn sie diese Bretter durchschlug, dann würde sie sehen, wer in dem Grab lag.
Irgend jemand rief nach ihr.
Sie richtete sich auf und lauschte. Wie in Fieberschauern schüttelte sie sich, als sie die hohle Stimme hörte. Und wieder
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