090 - Moerderische Knochenhaende
sie sich dem Friedhof.
Die Wolken rissen auf, und das schwache Mondlicht erhellte den. Park. Der Wind, der am Abend aufgekommen war und eine angenehme Kühlung mit sich gebracht hatte, flaute wieder ab. Wie bleiern lag die Luft über den Gräbern.
Julia legte die Hand auf die Mauer, die den Friedhof einfaßte. Sie fühlte eine kleine Metallschaufel unter ihren Fingern und nahm sie mit, bevor sie weiterging. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Warum waren Töchter der Familie di Cosimo hier beerdigt worden und nicht in der Gruft? Was hatten diese Mädchen mit ihr gemein? Warum war ein Grab auch für sie ausgehoben worden?
Julia konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären. Was unterschied sie denn von Silvana, ihrer Schwester? Nichts, absolut nichts, was von Bedeutung wäre.
Wären sie keine Zwillinge gewesen, so hätte Julia sich irgendeine abenteuerliche Geschichte zusammen spinnen können. Sie hätte etwa annehmen können, daß sie von einem anderen Mann gezeugt worden war als Silvana, daß ihr Blut nicht rein war oder irgend etwas anderes in dieser Richtung. So aber gab es wirklich keine Erklärung.
Vor dem ausgehobenen Grab blieb sie stehen. Sie fühlte, daß ihre Knie zitterten und ihr war sterbenselend. Am liebsten hätte sie sich übergeben. Vor ihren Augen flimmerte es, und sie verspürte einen unangenehmen Druck im Kopf, so als ob sie eine schwere Erkältung bekäme.
Warum hatte der alte Berutti gesagt, er wolle am Anfang beginnen, und warum hatte er dann den Mord erwähnt?
Julia sank vor dem Grabstein neben der offenen Grube auf den Boden. Sie beugte sich tief zu ihm herab, um die Jahreszahlen lesen zu können.
„1905 – 1922“, las sie mit gedämpfter Stimme.
Sie war wie gelähmt. Die Zahl 1905 wirkte wie ein Schock auf sie. Im Jahre 1905 war die Marchesa, ihre Mutter, geboren! Hatte sie eine Schwester gehabt?
Davon hatte sie nie etwas gesagt. Und doch mußte es so sein, wenn dies die Gräber der di Cosimos waren. Wenn die Schattengestalt und Angelo Berutti die Wahrheit gesagt hatten, dann mußte in diesem Grab die Schwester von Luisa di Cosimo liegen.
Es stimmte.
Julia erinnerte sich an etwas, an das sie vorher nie gedacht hatte. Ihre Mutter und ihr Vater waren sehr weitläufig verwandt gewesen. Beide hatten den Namen di Cosimo getragen.
Julias Hand klammerte sich um die Schaufel. Und dann plötzlich überkam es sie mit unwiderstehlicher Macht, sie konnte nicht anders. Sie senkte die Schaufel in das Erdreich und schleuderte es zur Seite. Sie begann wie eine Besessene zu graben.
Carlotta Vespari saß zur gleichen Zeit am reich gedeckten Tisch auf dem Gut von Piero di Abbaccio, der alles an Köstlichkeiten aufgeboten hatte, was sein Land hergab.
Angelo Berutti fand am meisten Gefallen am Rotwein. Nachdem der Gutsherr ihn einmal aufgefordert hatte, ungeniert zuzulangen, bediente er sich wirklich ungeniert und reichlich. Carlotta fürchtete bereits, er werde später nicht mehr in der Lage sein, das Gespräch fortzuführen, auf das es ihr vor allem ankam, aber sie irrte sich. Berutti hatte seine Eigenarten, und eine davon war seine Trinkfestigkeit.
„Echte Vampire trinken Blut“, sagte er, als die Diener den Tisch abdeckten. „Ich bin nur ein kleiner Hexenmeister. Ich begnüge mich mit Rotwein. Das ist auch nicht schlecht.“
„Signorina Vespari möchte vor allem gern wissen, wie die Geschichte weitergeht, die du heute begonnen hast, Angelo.“
„Grausig“, entgegnete der Alte. „Können wir uns nicht lieber über etwas anderes unterhalten?“
„Nein“, sagte die Erzieherin hartnäckig. „Gerade darum geht es mir ja. Ich muß wissen, wie die Dinge zusammenhängen.“
Berutti trank sein Glas aus und ließ sich schmunzelnd nachschenken. Dann aber wurde er ernst. Er blickte Carlotta forschend an, und jetzt merkte sie, daß er keineswegs betrunken war.
„Ich habe schon erzählt, daß im Jahre 1622 Simonetta Cosimo aus Eifersucht ihre Zwillingsschwester Angelina ermordet hat.“
„Ja – dabei wurden wir unterbrochen.“
„Seit diesem Mord lastet ein Fluch auf dem Schloß und der Familie di Cosimo. Sie hat seitdem keine Ruhe mehr gefunden.“
„Warum nicht?“ fragte Carlotta drängend, als der Alte abbrach und schweigend auf sein Glas starrte.
„Angelina hatte wunderschöne bernsteinfarbene Augen“, fuhr Berutti fort. „Simonetta dagegen tiefschwarze. Das war das einzige Merkmal, das die beiden Zwillinge voneinander unterschied. Siebenmal wurden seit 1622
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