090 - Moerderische Knochenhaende
wiederum weibliche Zwillinge auf dem Schloß geboren. Immer wieder hatte eines der beiden Mädchen bernsteinfarbene, und das andere schwarze Augen. Und nie, Signorina Carlotta, niemals ist das Mädchen mit den bernsteinbraunen Augen älter als siebzehn Jahre geworden. Niemals!“
Die Hände der Erzieherin verkrampften sich ineinander. Sie mußte an Julia denken, die siebzehn Jahre alt war und die Augen der offenbar Verfluchten hatte.
„Sind diese Mädchen auf dem Friedhof für das Gesinde beigesetzt worden?“ fragte sie.
Der Alte nickte.
„Der Wein ist gut, wirklich gut, Piero. Schade, daß der Krug leer ist.“
Di Abbaccio lächelte und schnippte mit den Fingern. Ein Diener kam herein und brachte einen weiteren Krug Wein. Berutti bediente sich sofort, nahm noch ein Stück Brot und verzehrte es nachdenklich. Als Carlotta ihn mit Fragen bedrängen wollte, gab Piero ihr mit einer Geste zu verstehen, daß sie ihn in Ruhe lassen sollte. Tatsächlich sprach er wenig später von selbst weiter.
„Ja“, antwortete er. „Diese Mädchen sind nicht in der Gruft, sondern auf dem Friedhof beerdigt worden. Die Familie di Cosimo beschäftigte einen eigenen Priester, der es verstand, ihr einzureden, die Bernstein-Mädchen seien verflucht. Von da an wagten es die di Cosimos nicht mehr, diese Mädchen so zu behandeln, wie sie es eigentlich verdient gehabt hätten. Man verscharrte sie, als seien sie unrein. Durch dieses Verhalten aber wuchs die Schuld der Familie weiter an, so daß ein Ende nicht abzusehen ist. Julia wird sterben, vielleicht heute nacht, vielleicht morgen nacht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sie sterben wird, bevor sie achtzehn Jahre alt ist.“
„Nein“, sagte Carlotta erschüttert. „Nein, wir dürfen das nicht zulassen.“
„Wie willst du das verhindern, mein Kind?“
„Nun, könnte Julia nicht verreisen? Was ist, wenn sie nicht auf dem Schloß ist?“
„Dann wird wahrscheinlich der Zug verunglücken, in dem sie fährt, oder das Schiff, mit dem sie reist, wird untergehen. Überleben wird sie nicht, egal, wo sie ist.“
„Damit finde ich mich nicht so ohne weiteres ab.“
Angelo Berutti seufzte. Er blickte Carlotta mitfühlend an und schüttelte den Kopf.
„Wenn ich wüßte, was man tun kann, dann würde ich es tun“, beteuerte er. Wiederum trank er sein Glas bis zur Neige aus. „Man glaubte, man könne alles totschweigen, aber man irrte sich.“
„Wann starb das letzte Mal ein Mädchen im Schloß?“
„Das ist noch gar nicht so lange her, wenn man bedenkt, daß die ganze Geschichte über einen Zeitraum von 350 Jahren geht. Das letzte Opfer war die Zwillingsschwester der Marchesa Luisa di Cosimo. Ich habe Teresa noch gekannt. Sie war ein wundervolles Mädchen, viel klüger, freundlicher und umgänglicher als ihre Schwester Luisa, die immer schon herrschsüchtig und kalt gewesen ist.“
„Was geschah mit Teresa?“
„Hast du noch Wein, Piero?“ Der Alte tat, als habe er Carlotta überhaupt nicht gehört. Piero di Abbaccio lächelte und schenkte neu ein. Berutti bedankte sich und trank.
„Teresa“, sagte er nachdenklich, „alle mochten sie. Ihr Vater, der Marchese, liebte sie abgöttisch. Und er wußte, welches Schicksal ihr bevorstand. Mit aller Macht versuchte er, es abzuwenden. Als sie siebzehn Jahre alt war, ließ er sie Tag und Nacht bewachen. Nicht einen Moment wollte er sie aus den Augen lassen.“
„Aber es geschah dennoch.“
„Sie haben recht, mein Kind. Eines Nachts schlief die Hofdame, die auf sie aufpassen sollte, ein. Teresa ging in eine Dachkammer hinauf, verriegelte die Tür hinter sich und stieg auf das Dach. Sie wußte offenbar nicht, was sie tat. Man sah sie vom Park aus und versuchte, sie zu retten. Aber man kam zu spät. Teresa stürzte vom Dach und brach sich das Genick, zwei Tage bevor sie achtzehn Jahre alt war. Der Marchese war so verzweifelt darüber, daß er ebenfalls bald starb.“
„Teresa starb im Jahre 1922?“
„Ganz richtig, 1922 war es.“
„Warum hat ihr Vater sie nicht in der Gruft bestattet, wenn er sie so geliebt hat?“
„Er tat es, aber die Marchesa hat sie nach seinem Tode umbetten lassen.“
„Man muß doch etwas tun können“, sagte Carlotta verzweifelt. „Julia darf nicht sterben.“
„Du hast dieses Mädchen wirklich gern, nicht wahr?“ fragte Piero.
Carlotta Vespari nickte.
„Wie eine Schwester, ich würde alles für sie tun.“ Sie trank einen Schluck Wein.
„Es muß etwas Besonderes an diesen
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