090 - Moerderische Knochenhaende
Sinne. Sie richtete sich auf, alles war still. Das Skelett war wieder ins Grab gesunken. Niemand befand sich in ihrer Nähe.
Julia kroch auf allen vieren über den Boden. Die Hände hielt sie zu Fäusten geballt. Sie wollte die Bernsteinaugen nicht verlieren. Sie klammerte sich geradezu an sie, als seien sie das Leben.
Als sie die Umgrenzungsmauer des Friedhofs erreichte, stand sie auf. Ihre Arme baumelten kraftlos neben ihrem Körper. Müde und erschöpft ging sie auf die Kapelle zu. Sie hatte nicht mehr die Kraft, die Füße vom Boden zu heben.
Es begann zu regnen.
Julia blieb stehen. Sie hob den Kopf gegen den Himmel und ließ sich die Regentropfen ins Gesicht fallen. Sie hatte nur den einen Wunsch, das Wasser möge den unerträglichen Verwesungsgeruch von ihrem Körper spülen.
Carlotta Vespari mußte auf der Rückfahrt zum Schloß anhalten und das Verdeck ihres Cabrios schließen, um nicht naß zu werden. Danach fuhr sie langsam, weil sich die Fahrbahn als äußerst schlüpfrig erwies.
Als sie auf das Schloßportal zurollte, geriet eine schlanke, völlig verschmutzte und durchnäßte Gestalt in das Licht ihrer Scheinwerfer, Julia.
Die Erzieherin beschleunigte ihr Tempo, bis sie das Mädchen erreicht hatte, und hielt dann an. Bevor sie jedoch aussteigen konnte, war Julia bereits am Wagen vorbeigegangen. Sie torkelte und stolperte auf das Portal zu. Carlotta zögerte, da Julia der Tür ganz nahe war.
Plötzlich wuchs – wie aus dem Nichts – eine schattenhafte Gestalt vor dem Mädchen auf. Julia blieb schwankend stehen. Der Regen trommelte auf sie herab, aber sie schien es nicht zu merken. Die Schattengestalt breitete die Arme aus, offensichtlich um Julia den Eintritt ins Schloß zu verwehren.
Carlotta riß das Steuer herum und gab Gas. Der Wagen jagte auf die Unheimliche zu, und die Scheinwerfer beleuchteten sie voll. Erst kurz vor ihr trat die Erzieherin auf die Bremse.
Ihr stockte der Atem.
Die Schattengestalt hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Silvana, obwohl sie uralt war. Das Gesicht war von tiefen Falten entstellt und schien an mehreren Stellen in Verwesung überzugehen. Nur Bruchteile von Sekunden konnte Carlotta die Erscheinung sehen, dann löste sie sich auf. Der Regen klatschte gegen die Fenster, als sei nichts gewesen.
Julia ging taumelnd auf die Tür zu, öffnete sie und verschwand im Schloß, als habe sie überhaupt nichts von Carlotta und dem Auto bemerkt. Sie schien völlig geistesabwesend zu sein.
Die Erzieherin ließ den Wagen zurück rollen, lenkte ihn zur Seite und stellte ihn ab. Sie löschte die Lichter, stieß die Tür auf und rannte durch den strömenden Regen ins Schloß. Die wenigen Schritte genügten, sie völlig zu durchnässen.
In der Halle war es dunkel. Carlotta schaltete das Licht an. Nasse Spuren führten die Treppe hinauf. Sie folgte ihnen bis in Julias Zimmer. Das Mädchen lag auf dem Rücken im Bett und blickte ins Leere. Die Hände hielt sie zu Fäusten geballt.
„Julia, was ist passiert?“
Das Mädchen antwortete nicht. Es schloß die Augen, legte sich auf die Seite, rollte sich zusammen und preßte die Fäuste gegen den Mund, die Schultern zuckten.
Die Erzieherin setzte sich auf die Bettkante und strich Julia das Haar aus der Stirn.
„Du brauchst mir nichts zu sagen, wenn du nicht willst, Julia. Ich möchte nur, daß du dich ausziehst, abtrocknest und dann wieder hinlegst.“
„Ich werde es tun“, antwortete Julia mit tränenerstickter Stimme. „Aber bitte, lassen Sie mich allein.“
„Ich werde später nach dir sehen.“
Julia nickte. Carlotta Vespari verließ das Zimmer und ging in ihr eigenes. Immer wieder fragte sie sich, wo Julia gewesen sein konnte. Schließlich nahm sie einen Regenmantel aus dem Schrank und eilte die Treppe hinunter. Sie blickte flüchtig auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Es regnete in Strömen.
Carlotta lief zur Kapelle hinüber und fand sie unverschlossen. Einige Kerzen brannten, sie waren bis auf einen winzigen Rest herunter geschmolzen. Das deutete darauf hin, daß sie schon vor Stunden angezündet worden waren. Carlotta konnte sich nicht denken, daß Julia die ganze Zeit in der Kapelle verbracht hatte. Ihr fielen die Gräber mit den Jahreszahlen ein und da wußte sie, wo Julia gewesen war. Abermals ging sie in den Regen hinaus. Der Weg zum Friedhof war aufgeweicht und glatt, aber das störte die Erzieherin nicht.
Wenig später stand sie vor dem geöffneten Grab. Es war bereits so hell, daß sie den
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