0904 - Ein teuflischer Verführer
sie kam sich vor wie eine Verfluchte, die dazu ausersehen war, an diesem Ort ihr Leben auszuhauchen.
Einige Male zwinkerte sie. Dabei hatte sie den Eindruck, daß sich die Figuren an der Außenhaut der Säule bewegten.
Ja, Figuren!
In diesem Augenblick hatte sie es sehr deutlich gesehen. Es waren Figuren, die an der Außenhaut vorstanden, aber es waren keine, auf die sich jemand freuen konnte.
Monster!
Wesen, an Widerwärtigkeit und Scheußlichkeit nicht zu überbieten, und es war nicht zu erkennen, ob diese als weiblich oder als männlich eingestuft werden konnten.
Wesen mit Armen, Beinen und Köpfen standen übereinander und waren zugleich ineinander verschlungen. Da wurden krumme, schlangenhafte Beine von ebensolchen Armen gehalten, was Vera irgendwo noch als normal ansah, im Gegensatz zu den Gesichtern, die zwar Menschen gehören mochten, trotzdem aber nicht menschlich aussahen. Sie waren einfach zu häßlich. Sie erinnerten die junge Frau an Knochenköpfe, über die jemand kurzerhand dünne Hautstreifen gezogen hatte. Es gab keinen Mund, der nicht weit offen gestanden hätte. Diese Mäuler wirkten wie erstarrt, als wäre das mitten im letzten Todesschrei geschehen.
In ihrer halb liegenden Position schüttelte Vera den Kopf, als wollte sie das Bild vertreiben. Sie kam nicht zurecht, es war einfach zu schrecklich für sie geworden. Obwohl sich die ineinanderverschlungenen Körper nicht bewegten, wollte sie nicht daran glauben, daß sie endgültig vernichtet waren. Sie wartete förmlich darauf, daß sie sich bewegten, daß sie ihre Augen noch weiter öffneten, daß die Mäuler zuklappten oder sich wieder öffneten. Vera hatte schon längst gespürt, daß diese Säule nicht grundlos vor ihr stand.
Es würde eine Verbindung zwischen ihr und der Säule geben. Vera zermarterte sich das Gehirn, um herauszufinden, was Lou Ryan ihr noch gesagt hatte, bevor sie eintauchten in diese ungewöhnliche Welt.
Er hatte davon gesprochen, daß es im Laufe einer langen Zeit Opfer gegeben hatte. Immer wieder waren solche wie er erschienen und immer wieder hatten sie es geschafft, in die menschliche Gemeinschaft einen blutigen Keil zu schlagen.
Vera wußte nicht mehr, was sie denken sollte, und sie wußte auch nicht, zu welcher Seite sie gehörte. Sie war ein Mensch, auch in dieser Welt, nur fühlte sie sich hier vollkommen deplaziert.
Jenseits der Säule bewegte sich etwas. Dort lag die schwarze Wolke wie ein Bettuch. Um sie herum jedoch zeigte die Luft einen helleren Glanz, als wäre sie dabei, ein gewisses Maß an Licht abzugeben, um eben einen Teil der Welt zu erhellen.
Aus diesem diffusen Etwas hervor trat eine Gestalt. Vera lag in ihrer Position und wagte es noch immer nicht, sich zu rühren. Die Säule mit ihren verschlungenen Leibern darauf war jetzt nebensächlich geworden, die Gestalt interessierte sie viel mehr, auch wenn sie sich davor fürchtete, denn sie hatte damit, gerechnet, daß Lou Ryan ihr einen Besuch abstatten würde. Er aber war es wohl nicht, es sei denn er hätte sich einen Mantel oder eine Kutte übergestreift, wobei die Kapuze noch hochgeschlagen war.
Sollte er es doch sein?
Die Gestalt kam näher.
Und Vera atmete auf.
Ja, er war es!
Sie sah nur sein Gesicht. Es bildete innerhalb der vorn offenen Kapuze einen Ausschnitt. Sie schaute genau hin, sie öffnete den Mund, aber sie war nicht in der Lage, irgendwelche Worte zur Begrüßung zu sagen. Der Anblick hatte ihr den Atem verschlagen.
Die Gestalt war jetzt so nahe herangekommen, daß Vera die Farbe der Kutte erkennen konnte. Was innerhalb der Wolke noch dunkel ausgesehen hatte, entpuppte sich jetzt als ein kräftiges Rot. Blut, das aus einer frischen Wunde schoß.
Die Gestalt ging weiter. Sie passierte die Säule und stoppte dann ihre Schritte.
Stumm blieb sie stehen.
Und erst jetzt war Vera Tanner in der Lage, eine Frage zu stellen. Sie begnügte sich mit einem Namen.
»Lou…?« hauchte sie.
Er nickte nur.
»Lou, bitte, ich…«
»Du bist jetzt bei mir, Vera. Du bist jetzt in meiner Welt. Du bist dort wo du auch hingehörst, denn es ist meine Aufgabe gewesen, dem Fürsten der Finsternis ein neues Opfer zu bringen. Ich bin in diese Zeit hineingestellt worden, um das zu tun, was andere schon vor mir getan haben. Immer wieder, über die Jahrhunderte hinweg, Vera, und mich hat es erwischt, und so habe ich mich für dich entschieden, denn der höllische Totempfahl brauchte wieder ein neues Bild, ein Opfer!«
Vera gab zu, über die
Weitere Kostenlose Bücher