0905 - Die Anstalt
Twist.
»Dass du hier bleibst, bis ich wieder da bin.«
»Ihr kommt nicht wieder. Ihr habt es selbst gesagt, dass die Gefahr riesig ist, dort, wohin Ihr wollt.«
»Aber es muss getan werden.«
»Warum?«
»Weil sie sonst niemanden zu haben scheinen, der das kann, was ich kann.«
Langsam kam Twist aus seiner Ecke, wischte sich mit den Ärmeln die Tränen vom Gesicht. Vor Hall blieb er stehen. »Okay, ich versprech's. Aber nur, wenn Ihr mir schwört, Meister, dass Ihr nichts unversucht lassen werdet, diese vermaledeite Gefahr zu besiegen… und mich danach hier wieder abzuholen!«
»Das schwöre ich!«, sagte Hall ernst.
Sie fielen sich noch einmal in die Arme. Dann verließ Arsenius Hall den Küchentrakt des Buckingham Palastes und stieg in die wartende Kutsche. In seiner Manteltasche knisterte das Buch, das Victoria ihm geschenkt hatte. Das Tagebuch seines Großvaters Edward Hawk, mit dessen Lektüre er noch während der holprigen Fahrt zum Millbank Penitentiary begann.
4.
Gegenwart
Detective Paul Hogarth erwartete sie vor dem Eingangsbereich des Krankenhauses. Der Mann von Scotland Yard erinnerte an eine junge Ausgabe des legendären TV-Ermittlers Columbo. Dazu passte seine Vorliebe für helle Trenchcoats. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er noch verunsichert und nervös auf die Vorkommnisse im Tate Britain [1] reagiert. Doch die damaligen Ereignisse hatten ihn gestählt. Selbstbewusst eilte er Zamorra und Nicole entgegen, als sie aus dem Taxi stiegen, das sie direkt vom Flughafen hierher chauffiert hatte. Kurz vor Eintreffen hatte Zamorra noch einmal mit Hogarth telefoniert, sodass dieser sich auf ihre Ankunft einstellen und sie hier in Empfang nehmen konnte. Als passionierter Nichtraucher hatte der Detective sich die Zeit offenbar mit der Lektüre der neuesten Ausgabe der Times vertrieben. Sie lugte, zusammengefaltet, aus der linken Außentasche seines Mantels.
Zamorra bemerkte nicht zum ersten Mal in nostalgischer Wehmut, dass sich auch die Times zumindest äußerlich zu ihrem Nachteil verändert hatte: Statt dem traditionellen Zeitungsformat, war sie seit ein paar Jahren auf kaum mehr als DIN A4-Größe geschrumpft. Für ihn ein Sakrileg. Eine Zeitung, so fand er, sollte wie eine solche aussehen. Und das tat die Times leider nicht mehr. Ihre Macher hatten sich dem Kostendiktat gebeugt, dem zunehmend auch andere traditionsreiche Publikationen zu Opfer fielen. Als Kenner und Fan der internationalen Pulpszene wusste Zamorra, dass er in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts etwa in Deutschland boomende Markt der Heftromane stetig zurückgegangen und mittlerweile nur noch eine Bastion zwei, drei wackerer Verlage war, die diese Fahne hochhielten. Doch auch dort schrumpfte das Angebot im Jahresrhythmus, und es war abzusehen, wann die letzten »Groschenhefte« den Weg alles Irdischen gehen würden.
Schade , dachte er beiläufig, während er auf den Detective zuging. Er pflegte neben seiner wissenschaftlichen Bibliothek auch eine Sammlung, die der von vielen verpönten phantastischen Trivialliteratur gewidmet war. Darin gab es die Klassiker eines Jürgen Grasmück ebenso wie die ambitionierten Arbeiten einer Claudia Kern, eines Jo Zybell, Ernst Vlcek, Hugh Walker, Timothy Stahl oder Werner Kurt Giesa.
Die Begrüßung verlief herzlich. Auch Nicole freute sich sichtlich, den Detective wiederzusehen, von dem Zamorra in den höchsten Tönen sprach. Die beiden eigentlich so grundverschiedenen Männer verband seit dem Tate-Abenteuer eine Freundschaft, die noch Luft nach oben hatte, aber jetzt schon von gegenseitigem Respekt und großer Sympathie getragen wurde.
»Können wir… wie nannten Sie den Mann doch gleich? Patient X? Können wir gleich zu ihm?«
»Niemand kann momentan zu ihm«, lehnte Hogarth ab. Er fuhr sich über den Kopf, als wollte er sich die Haare raufen. »Der Mann aus dem Bild ist zu einem Sicherheitsrisiko allererster Güte geworden.«
»Sie wollten am Telefon keine Einzelheiten nennen…« Zamorra blieb äußerlich die Ruhe selbst. Insgeheim fragte er sich jedoch, was Hogarth' dringender Hilferuf für einen Sinn machte, wenn er ihnen nicht einmal die Quelle seiner Besorgnis zeigen wollte.
»Es ist kompliziert…«
»Das ist es immer, wenn wir zum Einsatz kommen« Nicole lächelte, aber wer sie so gut kannte wie Zamorra, der sah den tödlichen Ernst dahinter. Und die Ungeduld, weil auch sie nicht verstand, warum Hogarth sie sofort nach ihrem Eintreffen schon wieder
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