0905 - Die Anstalt
all den Jahren vollbracht haben. Ich weiß um Ihre Verdienste für die Krone - auch wenn Sie selbst offenbar nie ahnten, dass die Krone ein Auge auf Sie hat…«
***
Arsenius Hall umrundete das detailverliebte Holzmodell der real am Ufer der Themse erbauten Millbank-Haftanstalt. Jeder Londoner kannte sie, und sie war auch berühmt-berüchtigt weit über die Stadtgrenzen hinaus. Die Königin untertrieb nicht, wenn sie von einem fast einzigartigen Bauwerk sprach: Es hatte die ungefähre Form eines Wagenrads. Ein Oktaederturm bildete den Mittelpunkt, die Nabe sozusagen, und von ihm ab liefen die »Speichen«, langgezogene Gebäudeflügel mit mehr als dreitausend Gängen und unzähligen Zellen. Schwer- und Schwerstverbrecher fristeten dort ihr Dasein, viele in finsterster Isolationshaft.
Ja, er kannte diesen Bau, er hatte ihn oft genug aus der Ferne betrachtet und sich das Leben hinter den Mauern zu verinnerlichen versucht. Es hatte ihn stets gleichermaßen fasziniert wie entsetzt. Aber die Anziehungskraft des Millbank überwog, und mehr als einmal hatte er seine besonderen Sinne ausgestreckt, um sich in die Psyche eines Inhaftierten einzuschleichen. Er hatte teilgenommen an ihrem Leiden, aber stets hatte er auch erfühlt, dass sie Furchtbares getan und deshalb ihre Strafe auch vollends verdient hatten. Einen Unschuldigen - dessen Unschuld in seiner Seele abzulesen war - hatte er in all den Jahren nie »berührt«.
Seiner charismatischen Gastgeberin gegenüber verlor er darüber jedoch kein Wort. Stattdessen wurde ihm bewusst, worauf sie vorhin, im Nebenraum, angespielt hatte: Das Symbol auf seiner Gürtelschnalle hatte frappierende Ähnlichkeit mit dem Grundriss des Millbank Penitentiary!
Zufall?
Hall war nicht gewillt, daran noch zu glauben.
Er beendete seine Umrundung des Tischmodells. »Majestät, Ihr seht mich verwirrter, ratloser denn je. Wenn Ihr so freundlich wärt…«
»Sie wollen Erklärungen, Antworten?«
Er nickte.
»Die sollen Sie bekommen, natürlich. Sonst hätte ich Sie nicht herzitieren müssen.«
Das leuchtete ihm ein.
»Die Gründungszeit des Millbank-Gefängnisses fiel in die Regentschaft meines Vorvorvorgängers George III und geht rein architektonisch betrachtet auf die Ideen von Jeremy Bentham zurück - vielleicht haben Sie davon gehört.«
Hall nickte. Er hatte alles über die Anstalt gelesen, was ihm nur in die Finger gekommen war.
»Was Ihnen sicherlich unbekannt sein dürfte, ist, dass auch Ihr Vater und Großvater ihren nicht geringen Anteil an der Umsetzung von Benthams Plänen hatten. Sie leisteten sozusagen den der Öffentlichkeit unbekannt gebliebenen Beitrag.«
Hall spürte, wie es ihm immer schwerer fiel, sich zu gedulden. Erneut sprach die Königin von denjenigen, deren Spuren er zeitlebens vergeblich gesucht hatte. Er war in einem Waisenhaus aufgewachsen. Einem relativ komfortablen, privaten Waisenhaus, wie es kaum ein zweites in London gab. Er hatte nie herausgefunden, wer die Einrichtung finanzierte. Und als er erwachsen war, hatte man ihn mit einem kleinen Grundstock an Geld fortgeschickt, damit er sein Leben fortan selbst in die Hand nehmen sollte. Zu Wohlstand hatte er es nie gebracht. Aber es reichte stets, um sich zu kleiden und zu ernähren. Und irgendwann war er sich seiner besonderen Gaben bewusst geworden. Irgendwann war er auch einem kleinen Jungen begegnet, der die andere Sorte Waisenhäuser kennengelernt hatte. Die, die Kinderseelen brachen. Er war ihm nachts in den Gassen Londons begegnet, als der Junge von damals gerade mal vier Jahren seinen Peinigern entflohen, ausgerissen war. Ohne lange zu überlegen hatte er ihn fortan unter seine Fittiche genommen. In Anspielung an den von Hall verehrten großen englischen Schriftsteller Charles Dickens und dessen Meisterwerk Oliver Twist hatte er den Knaben, der ihm seinen wahren Namen in der Anfangszeit nicht sagen konnte oder wollte - vielleicht fürchtete er, von Hall doch noch zurückgeschickt zu werden in das grässliche Heim -, kurz und bündig Twist genannt. Später hatte Hall erfahren, dass der Junge offenbar William hieß. Aber Twist gefiel ihnen beiden besser, und so war es dabei geblieben.
»Vielleicht haben wir große Schuld auf uns geladen, dass wir dem Wunsch Ihres Vaters entsprachen, Sie so aufwachsen zu lassen, wie es geschah. Aber er war der Meinung, dass es besser wäre, Ihnen nichts von Ihrer Herkunft und damit Ihrem Fluch zu verraten - offenbar hegte er die Hoffnung, dieser käme so niemals
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