0909 - Drachentod
Früher hätte ich mich nicht so leicht täuschen lassen.
Dann rief er den Sicherheitschef des Ordens und befahl ihm, ein Team zusammenzustellen.
»Ich werde es sofort veranlassen, Meister. Wer ist das Ziel?«, fragte Bruder Chow.
»Lam Chi-Wei. Er steckt hinter den Morden am Hafen.«
Falls Bruder Chow überrascht war, ließ er sich das nicht anmerken. Er nickte, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ich muss wissen, was Lam vorhat«, sagte Meister Shiu. »Möglicherweise wollte er über Yuen Ma an Chin-Li herankommen. Beobachtet ihn unauffällig, aber geht kein Risiko ein. Wenn Gefahr droht, muss er sofort eliminiert werden.«
***
Es versetzte Chin-Li jedes Mal einen Stich, wenn sie nach Hongkong zurückkehrte. Eine merkwürdige Mischung aus Heimweh und Trauer überkam sie, wenn sie an die langen Jahre dachte, in der sie Angst und Schrecken in den Straßen verbreitet hatte.
Die schöne Killerin der Neun Drachen, sie war eine lebende Legende gewesen, über die sich die Menschen nur im Flüsterton unterhielten. Eine erbarmungslose Vergeltungsmaschine, die all jene, die die Gesetze der Bruderschaft übertreten hatten, gnadenlos bestraft hatte.
Während sie die Fähre betrat, die Hong Kong Island mit Cheung Chau verband, fragte sie sich, ob jemand anderes in ihre Fußstapfen getreten war. Sie bezweifelte es. Sicher, es hatte andere Kinder gegeben, die von dem Orden zu furchtlosen Kriegern ausgebildet worden waren, aber niemand hatte ein so rigides Training bekommen wie Chin-Li. Sie war die Auserwählte. Der Liebling der Götter. Die ewig Verdammte.
Aber es gab noch eine andere Chin-Li. Das Kind, das von ihren Eltern im Alter von drei Jahren den Priestern des Ordens übergeben worden war, weil ein Wahrsager ihr prophezeit hatte, dass es ihre Aufgabe sei, den Willen der Götter zu erfüllen. Ein Kind, das sich nächtelang in den Schlaf geweint hatte, weil es nicht verstand, warum es von den Menschen, die es am meisten auf der Welt liebte, verlassen worden war. Und das nur in Tin Hau, ihrer Göttin und Schutzpatronin, eine Freundin gefunden hatte.
Doch Chin-Li hatte ihre Eltern wiedergefunden. Sie waren einfache Fischer, die ihr Leben lang hart gearbeitet hatten und jetzt einem geruhsamen Lebensabend entgegenblickten. Dass plötzlich ihre auf immer verloren geglaubte Tochter in ihrem Wohnzimmer stand, hatte sie völlig überfordert.
Zuerst waren sie sich nicht sicher, ob sie nicht gegen die Gebote der Götter verstießen, schließlich hatten sie ihr einziges Kind Tin Hau geschenkt. Hatten sie überhaupt noch ein Recht auf ihre Tochter? Doch dann hatte sie Chin-Li vor Freude überwältigt in die Arme geschlossen.
Chin-Li hatte ihnen nur wenig erzählt von dem, was in den vergangenen Jahren geschehen war. Und sie hatte das Gefühl, dass ihre Eltern es auch gar nicht so genau wissen wollten. Die Neun Drachen wurden von den einfachen Leuten ebenso bewundert wie gefürchtet. Es war besser, man erfuhr nicht allzu viel von dem, was hinter den Mauern des Klosters in Mong Kok vor sich ging.
Chin-Li war an diesem Tag nur ein paar Stunden geblieben, aber sie war mehrfach wiedergekommen, stets darauf bedacht, dass niemand etwas von ihren heimlichen Besuchen in Hongkong erfuhr. Doch die Neun Drachen hatten ihre Spione überall. Auf Dauer ließ sich nichts vor ihnen geheim halten.
Ich hätte es wissen müssen. Ich war zu selbstgefällig. Zu arrogant , dachte Chin-Li bitter. Als Cheung Chau in Sicht kam, verdrängte die Kriegerin die düsteren Gedanken und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.
Die schmale Insel lag zehn Kilometer südwestlich von Hong Kong Island und war einst ein berüchtigtes Piratennest gewesen. Heute war Cheung Chau vor allem bei Touristen beliebt, die die beschauliche Atmosphäre der fast autofreien Insel und das gute Essen der zahlreichen Fischrestaurants schätzten.
Als die Fähre anlegte, ließ sich Chin-Li vom Strom der bunt gemischten Besucherschar mittreiben. Aus dem Schutz der Menge scannte sie die Umgebung, doch ihr fiel niemand auf, der nach ihr Ausschau hielt. Das war ein schlechtes Zeichen, denn sie war sich sicher, dass sie irgendwo da draußen waren und auf sie warteten. Wenn sie niemanden entdeckte, bewies das nur, dass sie ihre Gegner nicht unterschätzen durfte.
Doch auch Chin-Li hatte die knappe Zeit genutzt, um sich so gut wie möglich vorzubereiten. Sie hatte eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was in diesem Hotelzimmer in Singapur passiert war. Und sie hatte Vorsorge getroffen,
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