091 - Die Bräute des Henkers
aus einer alten Baracke im Südteil der Insel.
Pierre hatte sich rührend bemüht, Coco jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Aber das hatte nichts an den elenden Verhältnissen geändert.
Michel Latour hatte Coco und Pierre durch das Fernglas gesehen. Er warf wieder den Treibanker aus und steuerte das Rettungsboot auf die Steilküste zu.
Coco und Pierre stiegen zu der Felsplattform hinunter. Pierre trug Cocos Koffer, sie die Tragetasche.
Latour musterte die verwilderte Erscheinung Pierres erstaunt.
„Olala, hübsche Mademoiselles ! Haben Sie sich auf der Paradiesinsel so schnell einen Freund zugelegt? Na, dann kommt mal an Bord, ihr beiden!"
Coco sprang als erste in das schwankende Boot. Pierre reichte ihr den Koffer und sprang dann selber an Bord. Er stellte sich ungeschickt an und wäre über Bord gefallen, wenn ihn Michel Latour nicht am Hosenbund gepackt hätte.
„Langsam, mein Freund! Oder willst du schwimmen? Nach Eau de Cologne duftest du nicht gerade, und die letzte Herrenmode ist es auch nicht, was du da trägst."
„Ich bin Pierre", sagte der Schwachsinnige und grinste albern. „Der gute Pierre."
„Bringen Sie uns an Bord, Kapitän Latour!" sagte Coco.
Latour hatte seine unvermeidliche Pfeife im Mund. „Genau das hatte ich vor."
Er steuerte zu der Barkasse hinüber. Coco sah eine Frau an Bord, und als sie näher kam, hörte sie ihre Stimme. Valerie de Tinville keifte und schimpfte.
„Also, das ist ja unerhört, was Sie sich da erlauben, Kapitän Latour! Davon wird der Marquis erfahren. Darauf können Sie Gift nehmen. Was hat das zu bedeuten, daß Sie hier diese Frau und diesen verlausten Kerl an Bord nehmen? Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung!"
„Dieses Weib redet dem Teufel das Ohr weg", sagte der alte Seebär. „Sehen Sie zu, wie Sie mit ihr einig werden, Mademoiselle!"
Sie gingen über das Fallreep an Bord. Valerie de Tinville keifte in einer Tour und verlangte eine Erklärung. Sie wollte wissen, weshalb sie nicht sofort zum Grafen gebracht worden war.
Valerie war Mitte Zwanzig, sah aber älter aus. Ein paar Falten in ihrem Gesicht und ihre spitze Nase verrieten, daß mit ihr nicht zu spaßen war. Sie war ziemlich klein und hatte schon einen ganz schönen Bauchansatz und beachtliche Speckrollen über den Hüften. Valerie de Tinville trug ein grünes Reisekostüm und einen grünen Hut.
Michel Latour holte das Rettungsboot wieder an Bord. Pierre musterte indessen Valerie de Tinville neugierig. Sie wich angeekelt von ihm zurück.
„Pfui! Der Kerl stinkt ja drei Meter gegen den Wind nach Schweiß und starrt vor Dreck. Was soll der hier an Bord? Und wer sind Sie, he?"
Die letzte Frage stellte sie Coco. Diese dachte, daß der Marquis de Calmont an dieser Gesellschaftsdame sicher keine Freude gehabt hätte.
„Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle de Tinville", sagte Coco und sah der zänkischen jungen Frau fest in die Augen.
„Wie, Sie kennen mich?" fragte Valerie de Tinville.
Dann befand sie sich auch schon in Cocos hypnotischem Bann. Sie entspannte sich und ihre Züge wurden ausdruckslos. Vor allem war sie endlich ruhig, was bei weitem der angenehmste Effekt war. „Wo haben Sie Ihr Gepäck?" fragte Coco.
„In der Kabine."
„Dann gehen Sie mit mir dorthin!"
Coco sagte Pierre, er sollte an Deck bleiben. Sie ging mit Valerie de Tinville nach unten. Die Kabine, eigentlich für einen Matrosen gedacht, war klein, und man merkte, daß sie nicht benutzt wurde. Das Bett war nicht bezogen, der Spind leer und verstaubt. Valerie de Tinvilles Koffer, sechs an der Zahl, waren am eisernen Bettgestell festgeschnallt, damit sie nicht hin und her rutschen konnten. Mit hängenden Armen stand Valerie de Tinville Coco gegenüber.
„Erzählen Sie mir, wie Sie mit dem Grafen de Calmont Kontakt aufgenommen haben!" forderte Coco sie auf.
Valerie de Tinville mußte dem hypnotischen Befehl gehorchen.
Coco erfuhr in den nächsten Minuten, daß sie die Tochter einer Adelsfamilie in der Bourbonnais war. Valerie hatte drei ältere Brüder, und sie war nicht der Sonnenschein der Familie. Ein Mann hatte sich für sie trotz aller Anstrengungen nicht auftreiben lassen. Sie besaß verschrobene Ansichten und trauerte der Zeit vor der Französischen Revolution nach. Charles-Henri de Calmont hatte einen Artikel in einem Blättchen veröffentlicht, das sich Adelsalmanach nannte und seine Liebhaberauflage in blaublütigen Kreisen hatte. Der Graf schilderte die Verhältnisse
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