091 - Die Bräute des Henkers
Mädchen bekamen in der Nacht zuvor Besuch vom Mitternachtshenker. Er jagte ihnen eine derartige Furcht ein, daß sie nichts zu sagen wagten. Und dann ist da noch dieses furchtbare Heulen", fuhr Solange fort. „Das macht mich noch wahnsinnig. In den wenigen Nächten, in denen es ruhig ist, liege ich wach und warte darauf, daß es anfängt. Manchmal dauert es nur eine Viertelstunde, oft eine Stunde und länger. Verschiedentlich hat es sogar schon die ganze Nacht angehalten."
Coco fragte nach dem Mitternachtshenker.
„Eine unheimliche Erscheinung", sagte Solange de Bloissy. „Er kommt immer gegen Mitternacht. Bei mir war er zweimal, weil ich Bemerkungen gemacht hatte oder sonstwie aufgefallen war. Einen solchen Besuch möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich zitterte noch den ganzen Tag danach." „Wie sieht der Mitternachtshenker aus?"
„Er trägt einen roten Kapuzenmantel und hat eine schwarze Maske vor dem Gesicht. Meist hat er ein blitzendes Richtbeil mit breitem Blatt bei sich. Seine Augen leuchten gelb wie die eines Raubtiers. Und er hat eine dumpfe unheimliche Stimme und stößt fürchterliche Drohungen aus."
Diese unheimliche Erscheinung mußte Coco entlarven. Sie fragte sich, ob Dorian Hunter ihretwegen auf die Paradiesinsel gekommen war.
„Wir müssen uns beeilen", sagte Solange nun. „Du mußt dich noch umziehen vor dem Abendessen." Eine Frage hatte Coco noch. „Solange, der Graf gibt ein Vermögen für seine Gesellschafterinnen aus. Sechstausend Franc im Monat für jede. Dazu kommt die Regelung der finanziellen Verbindlichkeiten. In deinem Fall war die Summe wohl nicht zu gering?"
„Das kannst du annehmen. Fast eine halbe Million hat er für mich hinblättern müssen. Und weißt du, was das tollste ist? In der ganzen Zeit, die ich hier bin, hat er es nicht einmal bei mir versucht." Das hatte Coco wissen wollen.
„Jetzt sag nur nicht, eure Gegenleistungen bestehen nur darin, das Rokokotreiben hier auf der Insel mitzumachen? Er ist immerhin ein Mann, und ihr seid alle junge und hübsche Frauen."
Solange warf sich aufs gemachte Bett und lachte. „Du wirst es nicht glauben, Valerie, genauso ist es. Wir reden in der Hinsicht sehr offen miteinander, wenn es auch sonst eine Menge Feindseligkeiten und mit spitzer Zunge ausgetragene Streitigkeiten gibt. Das kann nicht ausbleiben, da wir alle auf so engem Raum zusammengepfercht leben und den lieben, langen Tag nichts Vernünftiges zu tun haben. Aber ich kann dir mit Sicherheit sagen, daß der Graf noch mit keiner von uns geschlafen hat. Er tut zwar immer so, als seien wir alle seine Mätressen, aber das ist nur Gerede. Da kannst du schon sehen, wie verrückt er ist."
Es klopfte an der Tür. Zwei Zofen traten ein. Sie knicksten vor Coco. Die eine war jung, ein halbes Kind noch, die andere eine Frau in den Vierzigern.
„Wir sollen Euch beim Umkleiden helfen, Demoiselle."
„Demoiselle Valerie muß sich erst noch waschen", sagte Solange. Sie schaute auf die kleine Standuhr. „Mein Gott, so spät schon! Jetzt wird es aber wirklich höchste Zeit. Der Marquis sieht sehr auf Pünktlichkeit und kann es nicht leiden, wenn man zum Essen zu spät kommt."
Alle andern saßen schon am Tisch, als Coco und Solange de Bloissy eintraten. Auch Coco trug jetzt ein glockenförmiges, tief ausgeschnittenes Kleid. Sie kam sich vor wie eine Teepuppe. Auf der linken Wange klebte ein Schönheitspflästerchen, und ihre schwarzen Haare waren kunstvoll hochfrisiert. Coco sah hinreißend aus und war die schönste von allen.
Sie deutete einen Knicks vor dem Grafen an.
De Calmont fühlte sich geschmeichelt. Er erhob sich, führte Coco an ihren Platz und rückte ihr den Stuhl zurecht.
Sie saß zu seiner Rechten.
„Demoiselle sehen bezaubernd aus", sagte de Calmont.
„Danke."
Das Mahl begann. Sechs livrierte Diener trugen auf. Es war ein ausgezeichnetes Essen, aus sieben Gängen bestehend. De Calmont versuchte, Konversation zu machen. Er sprach über die Hetzjagd mit einer Hundemeute und die alte Kupferstichkunst. Er verstand eine Menge davon, und Coco hörte interessiert zu. Wenn sie aber versuchte, den Marquis auf Themen der Neuzeit zu bringen, runzelte er nur leicht die Stirn.
Nach dem Essen begaben sich der Graf und die neun jungen Frauen und Mädchen in den Blauen Salon. Zwei der Mädchen spielten vierhändig Spinett, und Georgette sang. Sie hatte eine schöne Sopranstimme.
Coco lauschte und beobachtete gespannt. Es entging ihr nicht, daß einige von den
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