0910 - Der Totflüsterer
das Ding künftig kein Flügel mehr war, sondern ein Kunstgegenstand, und ihn seiner Sammlung beigefügt.«
»Das ging einfach so? Rein rechtlich, meine ich.«
»Ob es ging, weiß ich nicht. Er hat es eben einfach gemacht. Es war schließlich eine private Ausgrabung, außerdem waren die Zeiten damals anders.«
Zamorra strich sich über das Kinn. »Hat Ihr Vater jemals die Pergamentrolle aus Le Conquet gelesen? Ich gehe mal davon aus, schließlich war sie eines der zentralen Ausstellungsstücke im Museum dort!«
»Keine Ahnung. Wie schon erwähnt, seine Begeisterung für die Archäologie hielt nicht sehr lange an. Warum fragen Sie?«
»Ich verstehe nicht, wie man Zeit und Jahre in die Erforschung des Flügels stecken konnte, wo doch in dem Pergament steht, worum es sich dabei handelt!«
Luynes zog eine Augenbraue hoch und zeigte ein spöttisches Lächeln. »Ach ja? Und worum handelt es sich dabei Ihrer Meinung nach?«
»Wie ich Ihnen schon sagte, wird darin unter anderem der Kampf Agamars gegen Lucifuge Rofocale beschrieben - und es wird erzählt, wie ein Weißmagier Agamar die Hälfte seiner Schwinge abschlug.«
»Oh ja, natürlich! Es war ein Dämonenflügel! Wie konnten mein Vater und die Wissenschaftler nur so dumm sein, das nicht zu erkennen? Ach, jetzt fällt es mir ein: weil es keine Dämonen gibt! Hören Sie sich eigentlich ab und zu mal beim Reden zu?«
Zamorra ließ sich nicht provozieren. »Sehen Sie nicht, wie gut das alles zusammenpasst? Als Agamar zurückkehren wollte, hat er dabei die Nähe zu seinem Körperteil in unserer Welt gesucht oder er wurde davon angezogen. Deshalb Lyon! Deshalb Ihr Vater!«
Luynes schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich habe wirklich keine Zeit mehr, mir diesen Mist anzuhören! Ich glaube, Sie gehen jetzt besser!«
Nicole stand ebenfalls auf und sah Zamorra an. »Das erklärt aber noch nicht diese neue Todesserie! Außerdem dachte ich, du hast Agamar endgültig vernichtet!«
Zamorra nickte. »Dieser Überzeugung bin ich auch immer noch. So ganz durchschaue ich das noch nicht, aber ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.«
Roger Luynes klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Schreibtischplatte. »Hallo? Doktor Sambora und seine blendend aussehende Lebensgefährtin? Hätten Sie etwas dagegen, Ihre Konferenz nicht in meinem Büro abzuhalten und endlich zu gehen?«
»Eine letzte Frage noch, dann sind Sie uns los: Können wir uns den Flügel einmal ansehen?«
Und ihn vielleicht vernichten , fügte Zamorra in Gedanken dazu.
Ein kurzes Lachen. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Wegen der finanziellen Lage der Firma musste ich die Kunstsammlung meines Vaters verkaufen. Zu einem Preis, der der blanke Hohn war, wie ich noch erwähnen möchte. Edouard Pereire, über Jahre hinweg der Intimfeind meines Vaters, hat die große Güte besessen, sich die Sammlung für beinahe geschenkt unter den Nagel zu reißen. Aber was tut man nicht alles, um das Geschäft zu retten, nicht wahr?«
Luynes ging an Zamorra und Nicole vorbei zur Bürotür. Er öffnete sie und zeigte hinaus. »Auf Wiedersehen. Aber wenn es sich einrichten lässt, nicht so bald!«
Kaum standen sie draußen auf der Galerie, knallte Luynes die Tür hinter ihnen zu.
»Autsch!«, sagte Nicole. »Das war deutlich! Ein richtig netter Zeitgenosse.«
Sie machten sich auf den Weg zum Aufzug. »Stimmt. Dabei war er heute noch umgänglich! Als ich vor ein paar Monaten mit ihm zu tun hatte, fand ich ihn noch unangenehmer! Seine Borniertheit macht mich wahnsinnig!« Zamorra schüttelte den Kopf. »Weigert sich, an Dämonen zu glauben, faselt aber was von einem Werwuff! - Hey, was ist das denn für ein komischer Kauz?«
Zamorra zeigte über das Geländer der Galerie nach unten. Neben einer wuchtigen Palme standen zwei Männer und unterhielten sich. Der eine hatte lichtes Haar und trug einen weißen Kittel. Er gehörte offensichtlich zu Luynes Ball Bearing und wäre dem Professor auch kaum aufgefallen. Aber der zweite zog seinen Blick nahezu an. Obwohl im Gebäude angenehme Temperaturen herrschten, war er in einen schweren, zugeknöpften Mantel gehüllt, der sich so prall um den Körper spannte, als trüge der Mann darunter noch zwei oder drei Winterjacken. Aus dem Textilballen ragte ein unrasierter, ungekämmter Kopf mit aufgedunsenem Gesicht. Der Weißkittel hatte augenscheinlich keine Lust auf ein Gespräch mit dem Mann, der in diese heiligen Hallen so gut passte wie ein Ring aus einem Kaugummiautomaten
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