0911 - Nachtgestalten
im nächsten Augenblick materialisierten, erkannte Luc sofort, auch wenn er ihn bisher nur aus Fotos und Erzählungen kannte. Die hohen Wände mit den eingelassenen Fächern, der weiß gekachelte Boden, die silbrig im grellen Neonlicht glitzernden Stahltüren, die Riegel und Schlösser…
»Der Tresorraum des Bleistiftes«, sagte er leise und ließ seinen Blick über die verschlossenen Schließfächer schweifen. Ihm war zwar schwindelig, doch hatte er das Gefühl, sich so langsam an diese Form des Reisens zu gewöhnen.
»Bleistift?«, fragte Le Pen. »Ah, ja. So nennt man das Gebäude hier, richtig.«
Luc nickte. »Der Hochhausturm, in welchem die Credit Lyonnais ansässig ist, sieht wie der Bleistift eines Riesen aus. Daher der Spitzname. Als ich klein war, hat mir mein Vater von ihm erzählt. Er arbeitet hier.«
»Dann hoffe ich, es stört dich nicht, den Arbeitgeber deines alten Herrn heute Abend um ein paar Zehntausend Euro zu erleichtern.« Le Pen hob die Hand und wies auf die verschlossenen Fächer. »Ich könnte mir vorstellen, dass sich deine Marie über eine größere Geldspende freut. Insbesondere jetzt, wo ihre finanzielle Absicherung gerade den Bach runter gegangen ist.«
»Sie wollen, dass ich Geld stehle?« Luc lachte leise. » Das ist das Zeichen, das meine ›wahre Familie‹ von mir erwartet? Ein Bankraub? Ich habe schon Geld geklaut, als ich zehn Jahre alt war…«
Le Pen schnaufte abfällig. »Du hast Kleingeld geklaut, Luc. Aus dem Opferstock. Aber nein, das ist nicht alles, was sie von dir möchte.« Bevor Luc auch nur nachfragen konnte, woher er das mit dem Opferstock wusste, fuhr der Mann fort. »Aber sagen wir's mal so: Nachdem du dich beim letzten Versuch nicht gerade mit Ruhm bekleckert hast, gibt sie dir hiermit eine zweite - und letzte! - Chance für einen… sanften Einstieg. Wenn ich dir einen guten Rat geben soll: Nutze sie.«
Abermals hob der Mann die Hand, und mit einem Mal war Luc, als verlören die Neonlampen an der Decke des Zimmers Energie. Weiße Fäden aus Licht sonderten sich von ihnen ab und schwebten zu den ausgestreckten Fingern Le Pens, der sie mit einer schnellen Handbewegung zu gleißenden Kugeln zusammenwebte. Dann schleuderte er sie gegen die Schließfächer.
Ein Donnern und Grollen erfüllte den Raum. Blitze zuckten über die Wände, so grell, dass Luc die Augen schließen musste, und ein metallischer Geruch breitete sich aus. Binnen weniger Sekunden war der Spuk jedoch vorbei, und als Luc wieder hinsah, standen sämtliche Fächer offen. Stapelweise lagen Geldscheine darin, Wertpapiere und anderer kostbarer Kram.
»Bedien dich«, sagte Le Pen schlicht. »Aber beeile dich, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Fassungslos schüttelte Luc den Kopf, dann lachte er und machte sich daran, die Taschen seiner Jacke mit Eurobündeln zu füllen. Doch noch bevor er den ersten Stapel Geldscheine in Händen hielt, verharrte er. War da nicht ein Geräusch?
»Vorsicht!« Als er zur Seite blickte, sah er, wie sich der erste der drei schweren Riegel, welche an der Innenseite der Tresortür angebracht waren, langsam bewegte. »Da kommt jemand.«
Le Pen blieb ruhig. »Kein Problem, um den kümmere ich mich.«
»Soll das heißen…« Luc traute seinen Ohren nicht. Redete er hier von Mord? Der zweite Riegel bewegte sich; Sekunden nur, dann wäre die Tür offen.
Der Mann lächelte, kalt. »Was glaubst du, Luc? Hast du gedacht, den Jackpot gäbe es ohne Anstrengung?«
Der Junge schüttelte den Kopf und trat von den Schließfächern zurück. »Nein, keine Toten. Da mach ich nicht mit.«
Le Pen sah ihn an, schweigend und mit undeutbarem Gesichtsausdruck. Riegel drei begann, sich zu drehen.
»Nein«, bekräftigte Luc. »Wir gehen. Jetzt. Meine Entscheidung, klar?«
Und der rätselhafte Mann streckte den Arm aus. »Deine Entscheidung«, sagte er, und als Luc seine Hand ergriff, war ihm, als höre er eine tiefe Enttäuschung aus diesen Worten heraus.
***
Mustafa el-Fetouh arbeitete noch nicht lange bei der Credit Lyonnais. Vermutlich blieb er deswegen erst einige Sekunden lang erstaunt im Tresorraum stehen und starrte ungläubig auf die geöffneten Schließfächer. Das war ein Fehler, und hätte der der 42-jährige Marokkaner gewusst, dass es der letzte war, den er in seinem Leben begehen sollte, hätte er vielleicht schneller reagiert und den Alarm betätigt.
Stattdessen stand er da, den Mund geöffnet und die Augen weit. Ratlos atmete er die Luft ein, die hier seltsam
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