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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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Überraschung hatte eine ganz neue Dimension angenommen.
    Es war ein anonymes Paket, genau wie beim letzten Mal. Kein Absender, keine Briefmarke, nicht einmal eine Anschrift. Schlichtes, schmuckloses Packpapier und ein paar Schnüre, die alles in Form und zusammenhielten.
    Marie hatte es mit herein genommen, und dabei ein mehr als ungutes Gefühl gehabt. Als sie es öffnete, fielen ihr buchstäblich fünfzehntausend Euro vor die Füße.
    Seitdem saß sie da und starrte das Geld an, sowie die kleine weiße Karte, die zwischen den Scheinen gesteckt hatte. Bald klärt sich alles auf, halte dich bereit , las sie erneut.
    Erst das Kleid, jetzt das Geld… Wer immer L. auch war, er oder sie schien ganz genau zu wissen, was Marie benötigte. Und wann sie es brauchte.
    Aber Geld fällt nicht vom Himmel, Mädchen. Wer weiß, welche Gegenleistung dein unbekannter Wohltäter erwartet? Nichts ist wirklich umsonst. Für einen Moment war die junge Studentin versucht, die Polizei anzurufen. Diesen Glatzkopf von damals vielleicht, Brunot.
    Aber dann entschied sie sich dagegen. Marie schüttelte den Kopf, als könne sie die Stimme ihres rationalen Verstandes damit zum Schweigen bringen, hob die Geldbündel vom Boden und presste sie an sich. Hatte Sie nach all den Problemen der jüngsten Vergangenheit nicht einen kleinen Ausgleich verdient?
    »Man sollte seine Schutzengel nie hinterfragen«, sagte sie laut in den leeren Raum, und hoffte, sich damit selbst Mut zuzusprechen. »Wenn man zu sehr an ihnen zweifelt, gehen sie fort und schenken ihre Gaben einem anderen, der nicht so skeptisch ist.«
    Ihre Großmutter hatte ihr diese Lehre als Kind eingebläut, und Marie Dupont wollte verdammt sein, wenn sie sie nicht beherzigte.
    ***
    Der Anblick war grauenhaft, und das kalte Licht der Neonröhren an der Decke des Raumes trug nicht dazu bei, diesen Eindruck abzumildern. Eher im Gegenteil. Professor Zamorra schloss für einen kurzen Moment die Augen, als wolle er die ganze Umgebung - die mit hellblauen Kacheln und Bodenfließen verkleidete kleine Obduktionshalle im Keller des Lyoner Polizeipräsidiums - aus seinen Gedanken verbannen, doch so sehr er sich auch anstrengte, konnte er das Gesehene nicht davon abhalten, selbst jetzt noch vor seinem geistigen Auge aufzutauchen.
    »Ich hab dir ja gesagt, dass es heftig ist«, hörte er Pierre Robins sonore Stimme, und öffnete die Augen wieder. Sein alter Freund von der hiesigen Polizei sah müde aus, ratlos, doch in seinem Blick erkannte Zamorra ein Funkeln. Er kannte es gut.
    »Da hast du nicht untertrieben, Pierre.« Der Meister des Übersinnlichen schritt um die vier Tische, die in der Mitte der Halle standen, und besah sich ein weiteres Mal, was der Gerichtsmediziner auf ihnen drapiert hatte. Irgendwann einmal waren dies Menschen gewesen, auch wenn das nun mitunter sehr schwer zu glauben war.
    »Die Körper der Leichen sind nahezu buchstäblich zerfetzt worden und restlos ausgeblutet, bevor wir eingeschaltet wurden«, berichtete Robin. »Uns blieb nichts weiter, als die… die Stücke aufzusammeln, so hart das auch klingt, und sie zur näheren Untersuchung und Identifikation mitzunehmen.«
    »Ich vermute, ihr habt euch an den Zähnen orientiert, um die Personen zu identifizieren?«, fragte Zamorra nach einem Blick auf Thomas Brewsters Gesicht, das nur noch eine breiige Masse aus rotem Fleisch und verkrusteten Öffnungen war.
    Robin nickte. »An Zähnen, Tätowierungen, der rekonstruierten Körpergröße, Haarfarbe… In Mitchells Fall wurden wir sehr schnell fündig; er war als Organspender eingetragen und seine DNS entsprechend leicht zuzuordnen.«
    Zamorra sah zu Mitchells Tisch hinüber. Der Großteil der Organe des jungen Amerikaners lag nun in silbrigen Schalen - unbrauchbar und funktionslos. Kein einziges von ihnen würde noch einen Abnehmer finden, dafür hatten die oder hatte der unbekannte Angreifer gesorgt.
    »Und keine Spur vom Täter?«
    »Um ehrlich zu sein habe ich nicht mal den Ansatz einer Spur«, sagte Robin seufzend. »Genau da kommst du ins Spiel, alter Freund. Ich weiß ja, dass du… sagen wir: ungewöhnliche Ermittlungsmethoden vertrittst. Und Kontakte zu möglichen Informanten unterhältst, die wir Normalkriminalisten uns nicht mal im Traum vorstellen könnten.«
    Zamorra lächelte. »Zumindest die meisten von euch.« Robin hatte schon mehr als einmal an den Abenteuern des Meisters des Übersinnlichen teilgehabt und wusste so halbwegs, was er machte und welchen Gegnern er

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