0911 - Nachtgestalten
erst auf elf Uhr vormittags zu - kaum besetzt, doch genügten schon die zwei, drei besetzten Tische, um Marie dieses Gespräch noch unangenehmer zu machen, als es ohnehin schon war. Es war eine Sache, gefeuert zu werden. Aber eine ganz andere, wenn dies auch noch vor Publikum geschah.
»Mag sein, mag sein«, sagte Alexandre Kenzo und wedelte so ungeduldig mit der erhobenen Hand durch die Luft, dass seine strahlend weiße Kochmütze von seinem Kopf zu gleiten drohte. »Aber hier ist nichts angekommen, d'accord ! Was mich betrifft, ist das alles, was zählt. Und Sie wissen ganz genau, wie ich auf derartige Versäumnisse reagiere, Mademoiselle Dupont: Es gibt mehr als genug Menschen da draußen, die sich für die Chance, hier im ›Liberte‹ arbeiten zu dürfen, den Allerwertesten aufreißen würden.«
Marie seufzte und fuhr sich verzweifelt durchs Haar. »Ich habe den Brief eingeworfen! Mein Hausarzt hat mich krankgeschrieben, wenn ich's Ihnen doch sage. Ich verstehe nicht, warum sie das Attest nicht bekommen haben.«
Kenzo fuhr fort, als habe er sie gar nicht gehört. »Und wenn meine eigenen Mitarbeiter weniger Einsatz zeigen als diese Möchtegerns, und einfach zwei Tage lang nicht zum Dienst erscheinen, dann habe ich wohl aufs falsche Pferd gesetzt.«
»Aber ich hatte Ihnen doch am Telefon schon gesagt, dass ich nicht konnte. Ich hatte Ihnen gesagt, dass das Attest in der Post war.«
»Sie zwingen mich, mich zu wiederholen.« Er hielt abrupt an und drehte sich wieder zu ihr um. »Hier kam kein Brief an. Und was ich nicht bekomme, lasse ich auch nicht gelten. So sind die Regeln, klar? Das ist hier ein Vier-Sterne-Restaurant, da kann ich mir keine Möchtegerns erlauben.«
»Monsieur, ich brauche diesen Job, ich bitte Sie.« Maries Stimme zitterte, und die Studentin spürte Tränen in ihren Augen aufsteigen. Bitte nicht jetzt, nicht vor ihm. »Er finanziert meine Wohnung und mein Studium. Das Geld, das meine Eltern mir monatlich überweisen können, deckt das nicht.«
Kenzo blieb hart. Die Nase hoch erhoben, blickte er auf Marie hinunter. »Nicht mein Problem, Mademoiselle. Und wenn Sie jetzt so freundlich wären, zu gehen? Ihre Dienste als Kellnerin werden im ›Liberte‹ nicht länger benötigt.«
Dann drehte er sich abermals um und stolzierte ohne ein weiteres Wort in die Küche, aus der bereits wohlriechende Düfte in den Raum strömten.
***
Sieht aus, als wäre das nicht deine Woche, Kleine. Asmodis tupfte sich mit der weißen Stoffserviette, die vor ihm auf dem Tisch lag, den Mund ab und blickte der jungen Dupont nach, die gerade das Lokal verließ. Erst der Überfall, jetzt der Job… Wie sagt ihr Menschen noch gleich: Schlechte Nachrichten kommen immer im Dreierpack? Na, da würde ich an deiner Stelle schon mal anfangen, die Augen aufzuhalten!
Genüsslich schnitt sich Asmodis ein weiteres Stück des blutigen Steaks ab, das auf seinem Teller lag, und steckte es sich in den menschlichen Mund. Während er kaute, strich er mit der rechten Hand wie beiläufig über die Innentasche seines Jacketts. Papier knisterte. Tut mir übrigens furchtbar leid, dass dein Brief hier nie angekommen ist. Aber ich bin nun einmal kein Postzusteller.
Plötzlich spürte er, wie sich ein fremdes Bewusstsein in seinen Geist drängte. Als er es erkannte, öffnete er sich ihm und leistete keinen Widerstand. Das wäre ihm vor lauter Verblüffung ohnehin nicht gelungen.
Mein KAISER , dachte Asmodis ehrfürchtig. Hatte LUZIFER je zuvor auf diese Weise mit ihm Kontakt aufgenommen? Er konnte sich nicht entsinnen.
Wie geht deine Suche voran, mein treuer Diener? Ich habe lange nichts von deinen Fortschritten gehört.
Asmodis zuckte innerlich zusammen, als er des leichten Vorwurfs in LUZIFERs Worten gewahr wurde. Er hatte sich in der Tat ein wenig gehen lassen.
Weit besser als erhofft, mein HERR , gab er zurück und hoffte, der Herrscher der Hölle würde nicht allzu viel nachhaken. Ich habe einen Kandidaten ausgemacht, auf den Eure Beschreibung zutrifft, und bin momentan damit beschäftigt, die letzten Vorkehrungen für ein Unterfangen zu treffen, dessen Ausgang zweifelsfrei über seine wahre Natur Auskunft geben wird.
Aber ist er auch JABOTH? LUZIFER klang ungeduldig, und das war ein Tonfall, den Asmodis ganz und gar nicht an ihm mochte. Oder verschwendest du unser beider Zeit mit Unwichtigem? Mir scheint, du könntest weitaus effizienter vorgehen!
Der Dämon spürte, wie seine menschliche Hülle zu schwitzen begann. Ich
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