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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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diesem Gang zu begegnen, entweder verbal angefahren oder sofort mit einem feurigen Blick ihrer Augen vernichtet.
    Immerhin hatte sie die Macht dazu. Als Ministerpräsidentin gab es niemanden, der es ihr hätte verbieten oder sie deswegen hätte rügen können. Und Stygia wusste, dass sie sich dieses Amt, diesen Titel und all seine Privilegien und Annehmlichkeiten redlich verdient hatte. Und doch…
    So sehr sie sich auch anstrengte, konnte sie sie doch nicht genießen. Ihr Geist war nicht frei genug, um sich ganz auf diesen einen Aspekt des Hier und Jetzt konzentrieren zu können, den sie doch so lange herbeigesehnt hatte.
    Es gab noch eine andere Sache, die sie beschäftigte. Zu sehr beschäftigte.
    Das Kind.
    Immer wieder kamen ihre Gedanken auf das Balg zurück, das unerklärlicherweise in ihrem Bauch heranwuchs. Ein Kind, dessen Existenz sie weder verstehen noch nachvollziehen konnte. »Ich kann doch nicht schwanger sein«, hatte die schöne Teufelin gemurmelt, als ihr vor Wochen erstmals aufgefallen war, welche Veränderung mit ihrem Körper geschah. [1] Und seit den ersten Tritten von damals, die sie mit wachsendem Schrecken gespürt und erkannt hatte, war ihr Zustand noch eindeutiger, noch schlimmer geworden. Stygia hatte vieles versucht, um sich des ungewollten Wesens zu entledigen, doch nichts hatte den gewünschten Erfolg gebracht. Es war fast so, als schütze ein magischer Mantel den Embryo vor jeglichen Zugriffsversuchen, die zu mehr als einem reinen Beobachten dienen sollten. Und so wuchs das Balg weiter, nährte sich von ihr, und wurde… ja, zu was?
    Eine weitere Frage, die für den Moment unbeantwortet blieb. Und die ihren Teil zu Stygias Frustration beitrug.
    Schließlich erreichte sie den Raum, der ihr als Thronsaal diente. Mit gezielten Schritten näherte sie sich dem Sitz, den sie an seinem Ende für sich hatte errichten lassen, und ließ sich auf ihm nieder. Es war ein kunstvoll gefertigter Thron, wie ihn vermutlich kein anderes Wesen des Multiversums besaß. Sorgsam geformte, gebogene Stangen aus kaltem Marmor bildeten eine Sitzfläche und bogen sich von dort in weitem Radius zur Seite, formten Arm- und Rückenlehnen - und ließen Stygia genügend Raum für ihre breiten, schönen Flügel.
    »Thron der flehenden Hände« hatte sie das Möbelstück insgeheim und mit Blick auf seine Form getauft. Und in den Momenten, in denen es ihr gelang, ihre Gedanken von dem dreifach verfluchten Balg abzuwenden, ergötzte sich Stygia an der Vorstellung, just in diesen Händen zu sitzen, Audienzen zu halten und einen Bittsteller nach dem anderen abzuweisen. Den alten, steinernen Thron, der früher an der Stelle des Möbels gestanden hatte, hatte sie noch nie gemocht und nach ihrem Amtsantritt alsbald entfernen lassen.
    Ein Klopfen ertönte, und noch bevor sie reagieren konnte, öffnete sich die Tür zum Thronsaal und ein kleiner, grünlich schimmernder Kopf lugte hinein. Stygia erkannte ihn sofort: Rachban.
    »Hat man dich nicht gelehrt, zu warten bis du gewünscht bist?«, fuhr sie den schmächtigen Irrwisch an, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Oder ist es jetzt Sitte in der Hölle, einfach so in geschlossene Räume zu treten?«
    Befriedigt sah sie, wie Rachban schluckte. Sie kannte das niedere Dämonenwesen schon eine ganze Weile, weitaus länger als sie das Amt der Ministerpräsidentin oder zuvor das der Fürstin der Finsternis bekleidet hatte, und es gefiel ihr, dass sie Rachban trotz dieser langen Zeit noch mühelos ängstigen konnte.
    »Verzeiht, Durchlaucht«, krächzte der Irrwisch nach einem nervösen Räuspern, trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich. »Aber in Anbetracht des heutigen Tages hielt ich es für angebracht, direkt…«
    Heutigen Tages? Stygia runzelte die Stirn. Was wusste er schon? Hatte er etwa seit Stunden Krämpfe? Traten ihn etwa die unheiligen Füße ungeborenen Lebens aus dem Inneren des eigenen Körpers heraus? Was wusste Rachban schon von ihrem Tag?
    »Spiel nicht noch weiter mit meiner Geduld«, sagte sie bedrohlich leise. »Alter Freund hin oder her, Rachban, meine Zeit ist kostbar. Das gilt auch für dich.« Besonders für dich , fügte sie in Gedanken hinzu. Oder habe ich etwa nicht Besseres zu tun, als mich an einen Winzling wie dich zu verschwenden?
    »Verzeiht«, wiederholte der Irrwisch. Mittlerweile war er vor ihren Thron getreten, wagte es aber nicht, die Ministerpräsidentin anzusehen. Den Kopf stur auf den Boden gerichtet, stand er da, und seine

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