0915 - Macht des Schicksals
nur nach vorn, die Hände ausgestreckt.
Der Weg nach unten kam ihm verdammt lang vor. Endlich spürte er den kalten Boden unter seinen Händen. Der Mann knickte nach vorn zusammen, er drehte sich gleichzeitig zur Seite, stieß sich mit der Schulter ab und dachte in diesen Momenten nicht an seine Frau, sondern ausschließlich an sich selbst.
Er mußte den tödlichen Kugeln entwischen, die noch im Magazin der Waffe steckten.
Es war still.
Die Seitentür stand auf.
Licht fiel aus dem Wagen nach draußen und erwischte auch den am Boden liegenden Horace F.
Sinclair, was diesem überhaupt nicht gefallen konnte, denn so lag er tatsächlich wie auf dem Präsentierteller. Von Mary war nichts zu hören. In der Nähe fuhr der Wind wie mit Geisterarmen durch eine dicht belaubte Krone und ließ die Blätter rascheln. Hoch am Himmel hätte sich der Mond zeigen müssen, aber schleierhafte Wolken bedeckten den bleichen Kreis.
Tritte?
Gab es Tritte?
Sinclair strengte sein Gehör an. Es hatte auch im Alter nicht gelitten, er war stolz darauf, aber Mary meldete sich nicht. Sinclair atmete deshalb aus, und seine Gedanken konnten sich mit einem Ausweg aus dieser Lage befassen.
Noch immer auf dem Boden liegend, schaute er am linken Vorderreifen vorbei nach vorn, wo noch immer das Scheinwerferlicht den Weg ausleuchtete, das plötzlich die Hälfte seiner Leuchtkraft verlor, denn mit einem weiteren Schuß hatte Mary den linken Scheinwerfer getroffen.
Das Echo rollte durch die Dunkelheit und verlor sich irgendwo auf den Hängen.
Horace hätte sich am liebsten tief im Boden verkrochen. Da es nicht möglich war, blieb er liegen und hörte sehr deutlich, schon brutal überdeutlich, die jetzt häßlich klingende Stimme seiner Frau.
»Ich kriege dich, Horace. Ich werde dich kriegen. Ich werde dir eine Kugel durch den Kopf schießen und anschließend ein Messer nehmen, um dich zu zerstückeln. Glaub es mir…«
Sinclair hatte das Gefühl, innerlich zu vereisen. Das konnte, das durfte nicht wahr sein, das war nicht seine Frau, nicht die Person, die ihn auf seinem Lebensweg Jahrzehnte über begleitet hatte.
Aber er konnte sich nichts vormachen. Es war Mary, nur stand sie unter dem Einfluß des Schattens, und er hörte sie wieder gehen, und er hörte auch die Worte. »Ich werde dich holen, Horace. Es gibt keinen Ort hier in der Nähe, wo du dich verstecken kannst und ich dich nicht finden werde. Du brauchst keine Sorgen mehr zu haben, ich bin dein Tod…«
Wieder schoß sie.
Und diesmal traf sie - ob Zufall oder nicht - auch den rechten Scheinwerfer.
Die Dunkelheit fiel vor dem Range Rover zusammen. Nur das Licht aus dem Fahrerhaus fand durch die offenstehende Tür den Weg nach draußen und malte die Gestalt des Mannes deutlich ab.
Zu deutlich, präsentiertellerhaft, wie Horace F. Sinclair fand. Er war kein Mensch, der sich auf irgend etwas ausruhte. In seinem Leben hatte er gelernt, zu kämpfen und zu überleben, auch im Alter, als er längst die Vorzüge der Pension genossen hatte. Und auch jetzt wollte er nicht aufgeben, er würde dem Tod nicht so einfach die Hand reichen, auch wenn sie ihm durch seine eigene Frau entgegengestreckt wurde.
Er hörte Mary kichern. Es klang häßlich und widerlich. So kannte ihr Mann sie nicht, und dieses Geräusch fuhr in sein Inneres hinein wie ein Eiszapfen, der aber sehr schnell schmolz und einer gewissen Hitze Platz schaffte.
Zum Glück ging sie noch. Zum Glück hinterließ sie dabei auch Geräusche, die seine eigenen überdeckten, als er sich bäuchlings auf der Stelle herumdrehte.
Der Plan des Mannes stand längst fest. Wenn er dieser mordgierigen Person entkommen wollte, dann mußte er unter dem Wagen herkriechen. Bis er eine Deckung gefunden hatte, würde es viel zu lange dauern, da würde ihn jede Kugel einholen.
Deshalb kroch er unter den Wagen. Horace gratulierte sich dazu, ein hochrädriges Geländefahrzeug angeschafft zu haben.
Er schob sich der Hinterachse entgegen und blieb dort liegen, den Blick nach vorn gerichtet. Die Position war günstig. Er konnte sowohl nach vorn, aber auch rechts und links unter dem Wagen hinwegschauen und würde erkennen können, wenn sich dort jemand bewegte.
Er sah Marys Beine, trotz der Dunkelheit.
Sie kamen näher. Langsam und abwartend. Dann blieben sie stehen. Im Moment konnte Horace sie nicht mehr sehen, weil der linke Vorderreifen sie abdeckte, aber er wußte sehr genau, wo seine Frau hinwollte. Für sie war der offene Einstieg wichtig, um
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