0919 - Bücher des Grauens
zuckte mit den Schultern und trat ein.
Der Raum, in den er kam, war eng, ziemlich verwinkelt und mit einem Geruch erfüllt, der an vergorene Trauben, Schweiß und Staub erinnerte. Fassböden hingen neben rußgeschwärzten Petroleumlampen an den nur behelfsmäßig verputzten Wänden und dienten zur Dekoration. Abgewetzte, hölzerne Tische, die deutlich stabiler aussahen, als sie vermutlich waren, standen auf einem schmutzigen und mit vereinzeltem Stroh bedeckten Dielenboden. Und auf den schlichten Bänken vor ihnen saßen fünf Gestalten, jede mit einem steinernen Krug vor sich, und sahen dem Neuankömmling halb skeptisch und halb überrascht entgegen.
Es waren Männer mittleren Alters, und in ihren Blicken lagen mehr Fragen, als Zamorra je hätte beantworten können. Der Professor entschied sich, die unausgesprochene Aufforderung zu ignorieren, schloss die Eingangstür hinter sich und näherte sich einem der Tische.
»Verzeihung«, sagte er auf Französisch, »können Sie mir sagen, wo ich bin?« Doch die drei Männer, die dort saßen, schüttelten nur ratlos die Köpfe. Sie rochen nach Alkohol.
» En enfer, mon ami. «(In der Hölle, mein Freund.)
Zamorra zuckte zusammen und drehte sich um. Die Worte waren aus einer hinteren, im Halbdunkel gelegenen Ecke des Raumes gekommen, und als er sich genauer konzentrierte, konnte er eine weitere Person ausmachen. Sie hob die Hand, und die Geste wirkte fahrig. »Kommt rüber, wenn Ihr durstig seid. Ihr seht aus, als könntet Ihr's vertragen. Genau wie ich.«
Ein Rülpser erklang. Langsam ging Zamorra auf den Mann zu. Schon von weitem erkannte er, dass dieser sturzbesoffen war. Halb zusammengesunken hing er über dem Tisch, die Ellbogen auf die Holzplatte gestützt. Seine Augen waren trüb und schwer. Der Mann war vielleicht fünfzig Jahre alt und recht edel gekleidet, wenn man ihn mit den anderen Anwesenden verglich. Über einem weiten weißen Leinenhemd - dessen sichtbar gute Qualität beinahe über die dunklen Flecken hinwegtäuschte, mit denen es übersät war und die Zamorra instinktiv und mit Blick auf die feuchte Tischoberfläche auf vergossenen Rotwein zurückführte - trug er eine schwarze, sorgsam verzierte Weste. Ein stattlicher dunkler und leicht ins Graue gehende Bart dominierte sein Gesicht, und über seinen buschigen Augenbrauen überbrückte eine von Sorgenfalten gezeichnete hohe Stirn den Weg bis zum vollen, ebenfalls grau melierten Haupthaar.
Abermals winkte der Mann dem Professor zu, dann deutete er auf einen Platz an seinem Tisch. »Setzt Euch, guter Mann«, sagte er und verfiel plötzlich ins Deutsche, das, wie Zamorra nun erkannte, seine Muttersprache sein musste, wenngleich sie, so wie er sie verwendete, nahezu bis zur Unkenntlichkeit dialektal gefärbt war.
Zamorra kannte den Dialekt. Er gehörte ins Rhein-Main-Gebiet, nach Rheinhessen. Aber er klang anders, als er ihn bisher gehört hatte. Irgendwie… intensiver, ursprünglicher.
»Guten Abend«, sagte der Professor, als er den Tisch des Bärtigen erreicht hatte. »Mein Name ist…«
»Papperl… apapp«, winkte dieser lallend ab. »Solange er nicht Fust oder Schöffer lautet, soll er mir Recht sein, egal wie er ist. Hier, nehmt einen Schluck.« Mit diesen Worten schob er Zamorra einen Steinkrug zu, in dem eine dunkle, leicht süßlich riechende Flüssigkeit schwappte - zweifellos der zu den Flecken gehörende Rotwein.
»Danke«, sagte Zamorra, »aber eigentlich wüsste ich nur gerne, wo ich hier gelandet bin.«
Der Bärtige lachte trocken auf. »Na, in der Hölle, wie gesagt. Oder wie würdet Ihr einen Ort bezeichnen, an dem die Juristerei dem ehrbaren Handwerk den Boden unter den Füßen wegzieht? An dem Berufserfahrung, Familienehre und ein florierender Betrieb weniger zählen als ein läppisches Schriftstück?« Er schnaubte.
»Ihr…«, setzte Zamorra an und bediente sich der gleichen Anrede, »… seid von hier?«
»Nicht, dass es etwas nützen würde, Freund«, gab der Mann nickend zurück. »Als Mitglied einer Patrizierfamilie hat man in diesen modernen Zeiten ohnehin nur selten Grund zur Freude - das sage ich Euch! Und wenn sich mal nicht Volk und Herrscher gegen Euch verschwören, dann dreht Euch eben ein alter Kompagnon aus ein paar Schuldscheinen einen Strick.«
Der Wein hatte die Zunge des Bärtigen gründlich gelockert. Sichtlich dankbar darüber, einen Zuhörer für die von Selbstmitleid und Groll geprägte Geschichte gefunden zu haben, die ihm auf der Seele lag, redete er
Weitere Kostenlose Bücher