0919 - Bücher des Grauens
Die Wahrheit.
Wann immer er abends die Augen schloss, sah er sie wieder vor sich: jene Tage am Ufer des Laacher Sees in der Vulkaneifel. Damals war Struttenkötter, der zum Zwecke geologischer Feldforschung in die Region gereist war, in ein Abenteuer geschlittert, das sein ganzes Weltbild auf den Kopf gestellt hatte. Gemeinsam mit zwei hochinteressanten Parapsychologen und Dämonenjägern namens Zamorra und Duval hatte Struttenkötter eine unglaubliche Verschwörung aufgedeckt und Wesen aus einer anderen Existenzebene daran gehindert, die Welt zu erobern. [1]
Eine Welt, von der er seitdem wusste, dass sie nur eine von vielen war. Und die ihn nun genauso sehr anödete, wie all die unwissenden und treudoofen Menschen, welche auf ihr alltäglichen Banalitäten nachgingen und diese für den Inbegriff des Wichtigen hielten.
Eusebius Struttenkötter war sozusagen ein Blick hinter die Kulissen gewährt worden. Nun ertrug er es nicht mehr, einfach im Publikum zu sitzen und auf das Ende eines Stückes zu warten, das, wie er am Laacher See erfahren durfte, doch nur Illusion war. Nicht die Wirklichkeit.
Und da erwartete man ernsthaft von ihm, stundenlang einem Referat über Gutenberg zuzuhören? »Scheiß drauf«, flüsterte Struttenkötter, erhob sich von seinem Platz im Auditorium und schlich gebückt zum Ausgang des Hörsaals.
***
Kaum hatte er das Gebäude verlassen, fühlte er sich besser. Eusebius atmete tief ein und schloss sich dem Strom der Studierenden an, die in Scharen aus dem Haupteingang des Hochschulgeländes spazierten und sich dann in alle Richtungen verstreuten.
Es war ein sonniger Frühlingstag und die Innenstadt vom Campus aus problemlos zu Fuß erreichbar. Der Geologe blickte den jungen Menschen hinterher und ließ seine Gedanken abermals schweifen, malte sich aus, wer sie waren und welche tollen Abenteuer sie wohl erleben mochten, wenn sie nicht die Hochschulbank drückten. Die Blonde dort kämpfte in ihrer Freizeit vielleicht gegen Drachen. Der Rothaarige da hinten forschte eventuell dem Stein der Weisen hinterher.
Auch das war ein Folgeschaden seiner Begegnung mit den Dämonenjägern: Seine Fantasie kannte keine Grenzen mehr. Eusebius' Geist sehnte sich nach einer neuen besonderen Eskapade, und da ihm die Welt keine bot, erdachte er sich zunehmend selbst welche - immer und überall. Mal sah er haarige Monster in der Mensa, dann wiederum tanzten Pferde in der Straßenbahn, und, und, und. Manchmal ließen sich diese Tagträume kaum noch von der Wirklichkeit unterscheiden, doch Struttenkötter hatte gelernt, sie willkommen zu heißen und als harmlose Abwechslung zum Alltagstrott zu sehen. Wahnsinn, das wusste er nur zu gut, sah anders aus.
Daher verwunderte es ihn auch nicht im Geringsten, als er auf seinem Weg in die Innenstadt den Mainzer Hauptfriedhof passierte und im Gebüsch rechts neben ihm plötzlich ein alter Mann materialisierte. Struttenkötter warf ihm schlicht einen amüsierten Blick zu, grüßte freundlich und setzte seinen Gang ungehindert fort.
***
Sieht aus, als wäre heute ein guter Tag für Spinnereien , dachte Eusebius amüsiert und ließ die beeindruckende Atmosphäre des Mainzer Domes auf sich wirken. Erst der Alte im Gebüsch, dann diese Fischviecher…
Er hatte sie auf dem Weg hierher aus dem Augenwinkel gesehen: mannsgroße Gestalten, die humanoid wirkten, aber optisch doch eher an Meeresbewohner erinnerten. Sie hatten in einer verlassenen Seitengasse gestanden und Leise miteinander getuschelt, als Struttenkötter diese passierte. Manchmal überrascht mich meine Fantasie selbst. Ich wüsste zu gern, welche meiner Erinnerungen wohl Pate für diese Gestalten gewesen sein mochte.
Er kicherte leise, bis ihm eine alte Dame einen entrüsteten Blick zuwarf. »Verzeihung«, flüsterte Struttenkötter, schenkte ihr ein Lächeln und konzentrierte sich wieder auf das eintausend Jahre alte sakrale Gebäude, das zu besichtigen er gekommen war. Der Willigis-Dom - benannt nach dem Weihbischof, der seinen Bau veranlasst hatte - war durchaus imposant: hohe Decken, Buntglasfenster, ein geräumiges Langhaus mit zahlreichen Sitzbänken für die Gemeinde, sowie an den Seiten mehrere kleine Kapellen und ähnliche Räumlichkeiten, die den Rahmen für ein einsameres Gebet boten. Und über allem lag eine herrliche, wohltuende Stille.
Struttenkötter hatte fast erwartet, auch im Dom eine Gutenbergstatue zu finden, konnte bisher aber keine erblicken. Vielleicht ja im Keller , dachte er amüsiert,
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