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0919 - Bücher des Grauens

0919 - Bücher des Grauens

Titel: 0919 - Bücher des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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der Sache mit Fust.« Zamorra nickte verständnisvoll.
    »Genau das. Was kann ich dafür, dass sein Juristenkopf die Feinheiten einer erfolgreichen Betriebsführung nicht begreift? Natürlich hat er mir die achthundert Gulden geliehen, um weiter Bibeln zu drucken, aber kann ich von einer rein einseitigen Produktion existieren? Soll ich Kundschaft wegschicken, nur weil einer meiner Finanziers es nicht mag, wenn ich auch Kapital in die Herstellung anderer Inkunabeln(auch: Wiegedrucke. Schriftstücke aus der Frühzeit des Buchdrucks, die optisch noch eher den Handschriften ähnelten.) stecke? Ich bin Geschäftsmann, Herr Zamorra! Ich muss doch arbeiten können, um mein Geld zu verdienen.«
    »Und dann hat er Euch verklagt und vom Gericht Eure Werkstatt zugesprochen bekommen?«
    Gensfleisch nickte so heftig, dass sein langer Bart wackelte. »Und alles, was in ihr war. Die Druckmaschinen, die Bücher… einfach alles. Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich suchte mir einen Strick und einen schweren Stein und stürzte mich mit beidem in den Rhein, oder ich richtete mir eine neue Werkstatt ein, in der ich wieder ganz von vorne anfangen muss. Wie Ihr seht, habe ich mich für letztere Alternative entschieden. Zumindest bis auf Weiteres.«
    Abermals ließ Zamorra seinen Blick durch den Raum schweifen. Sie befanden sich ganz in der Nähe der frühgotischen St.-Christoph-Kirche, nämlich im Hof zu Guttenberg, dem einstigen Elternhaus des Druckers. Dorthin hatte sich Gensfleisch nach der gerichtlichen Niederlage zurückgezogen und seinen Neustart begonnen. Schon jetzt, wenige Wochen nach dem Verfahren, war nahezu jeder freie Raum im Inneren des Gebäudes mit Druckwerkzeugen und sorgfältig gestapelten Papierbögen zugestellt.
    »Macht Euch keine Gedanken, Meister Gensfleisch«, versuchte der Professor seinen Gastgeber aufzumuntern. »Ich bin mir sicher, dass diese Stadt - und längst nicht nur sie - auch langfristig noch Bedarf an Euren Diensten haben wird.« Trotz der absurden Situation konnte sich Zamorra ein Grinsen nicht verkneifen: Hier saß er und sprach Johannes Gutenberg Mut zu - dem Mann, dessen Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wie kaum ein zweites Ereignis zur Verbreitung der Aufklärung und somit zum Ende des Mittelalters beigetragen hatte, und den eine britische Zeitung noch fünfhundert Jahre später posthum zum »Mann des Jahrtausends«, küren würde.
    Und genauso, wie sich Gutenberg einen neuen Anfang wünschte, wünschte sich auch Zamorra etwas, was er nicht hatte: seine Zeitringe. Der Angriff der Fischwesen auf das Château Montagne war so unerwartet geschehen, dass der Meister des Übersinnlichen völlig ohne Ausrüstung in dieses Abenteuer gestolpert war. Insbesondere die beiden Ringe, mit denen er sich durch die Jahrhunderte bewegen konnte, hätten ihm die Lage aktuell stark vereinfachen können. Nun musste er sich nach anderen Wegen umsehen, in seine eigene Gegenwart zurückzukehren und nach Nicole und dem Rechten zu sehen.
    Er musste nicht lange warten. Wenige Minuten später, Gensfleisch lamentierte noch immer über sein Schicksal, sah Zamorra, wie sich in der Gasse vor dem Fenster der Stube eines der rätselhaften Fischwesen durch die nächtlichen Schatten schlich. Der Professor reagierte sofort. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sprang er auf, rannte zur Tür und hinaus auf die Straße. Und mit weit geöffneten Armen der überraschten Kreatur entgegen.
    Wie Zamorra erwartet hatte, löste sie sich - und ihn - auf, sobald der Professor sie berührte. 1455 verschwand hinter ihnen und machte der altbekannten Kälte und Finsternis Platz. Doch als diese diesmal wieder in Form und Substanz überging, fand sich Zamorra nicht in 2009 wieder, sondern…
    ... in einer anderen Welt?
    ***
    Nicole Duvals Atem ging stoßweise, und mehr als einmal hatte sie sich bereits an der Wand abstützen müssen, um nicht mit dem Gesicht voran auf den Boden zu stürzen. Sie war müde, unglaublich müde. Und allein.
    Der Kampf gegen die Fischwesen hatte ihr weitaus mehr Kraft abgerungen, als sie vermutet hatte - das merkte sie mit jedem neuen Schritt, der sie weiter durch das Château Montagne und dem Ausgang näher brachte. Sie musste raus und sich ansehen, was sie und William zu überprüfen geplant hatten, bevor…
    Bevor das Chaos, das sich an diesem endlos scheinenden Vormittag des Châteaus bemächtigt hatte, zu ihnen aufgeschlossen und sich zunächst William und dann Zamorra genommen hatte.

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