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0919 - Bücher des Grauens

0919 - Bücher des Grauens

Titel: 0919 - Bücher des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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deutlich hören.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie und drehte den Kopf, um auch den Rest der Szenerie in Augenschein zu nehmen. Was sie sah, ließ sie erstarren. Ihr Blick war zum Nordturm des Châteaus gewandert - der Bereich, in dem Zamorra sein Arbeitszimmer hatte. Nur war der Nordturm nicht mehr da!
    Es war, als hätte ein riesiger Chirurg einfach einen Teil des Gebäudes amputiert. Die Außenmauern endeten nun einige Meter tiefer, als sie es taten, seit Leonardo de Montagne das Château einst errichtet hatte. »Schauen Sie sich das an«, sagte Nicole, und Madame Claire wandte ebenfalls den Kopf.
    »Das… glaube ich nicht!« Die Köchin keuchte erneut auf. »Sieht aus, als hätte es diesen Teil des Gebäudes nie gegeben.«
    Nicole nickte. »Und ich glaube, ich weiß, woran das liegt…« Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und konzentrierte sich auf die Fenster unterhalb der Stelle, an der der Nordturm fehlte. »An dem da.«
    Hinter einer der Scheiben, im Inneren des Château Montagne, wütete der rätselhafte Lichtstrahl, dem sie bereits vor dem Computerraum begegnet war. Einem Raum, der nunmehr vermutlich genauso wenig existierte wie der Rest des Turmes.
    ***
    Die Alkoholfahne schlug Heinrich Delorme entgegen, als er an diesem Morgen die Tür zu Gensfleischs Werkstatt öffnete. Der junge Lehrling hielt seufzend inne und atmete einige Male tief ein, bevor er über die Schwelle trat und die beiden zur Gasse hinausgehenden Fenster öffnete, um die frische Menzer Luft in den muffigen Raum zu lassen. Erst dann bemerkte er seinen Meister, der auf einer Bank in der hinteren Ecke lag und schlief. Wenn Gensfleischs Leber nur halb so viel Wein abbekommen hatte wie sein Hemd, dürfte der Drucker den heutigen Arbeitstag mit einem gehörigen Brummschädel bestreiten.
    »Schon wieder zu tief in die Flasche geschaut?«, murmelte Heinrich und schüttelte den Kopf. Anblicke wie dieser waren keine Seltenheit. Seit der Urteilsverkündung hatte Gensfleisch schon zu oft Trost am Boden eines Weinkruges gesucht, als dass sein Lehrling darauf noch mit Überraschung reagierte. Der Mann war ein Trunkenbold, soviel stand fest - zumindest, wenn man die Menzer Elite fragte. Ein Versager, dessen Geschäfte genauso sehr den Bach runter gegangen waren, wie sein soziales Ansehen.
    Einzig Heinrich tat er leid. »Wenn Ihr Euch selbst sehen könntet«, sagte der junge Bursche leise. »Ein Mann voller Energie und Aktivität. Und dann ertränkt Ihr Euren Kummer in Rebensaft, anstatt den erlittenen Rückschlag als Herausforderung zu betrachten.«
    Er ging in die Nebenkammer, wo ein Holzofen stand, und setzte einen Topf Milch auf. Dann schickte er einen Jungen, der gerade draußen vorbeispazierte, zum Bäcker. »Bring Meister Gensfleisch etwas zum Frühstück, hörst du?«, trug er dem Kleinen auf.
    »Soll ich dann nicht besser ins Weinhaus gehen?«, fragte der Junge spöttisch, nahm Heinrichs dargebotenes Geld aber an und machte sich auf den Weg. Wenige Minuten später erfüllte der Duft frischer Backwaren die Werkstatt, und Heinrich machte sich daran, seinen Arbeitgeber zu wecken.
    Der Tag wurde schlimmer, als Heinrich erwartet hatte. Gensfleischs Kater war stärker denn je zuvor, und vor dem Mittag war der Drucker schon zwei Mal aus dem Haus gestürmt, um sich im Schatten der Christoph-Kirche zu übergeben - was seinem Wohlbefinden zuträglich war, seinen Leumund aber gewiss nicht verbesserte. Während sie arbeiteten, erging sich Gensfleisch wieder und wieder in seinen Tiraden über die Ungerechtigkeit der Welt und das schwere Los, das ihn befallen hatte. Er berichtete von einem nahezu närrisch gekleideten Franzmann namens Zamorra, der in der vergangenen Nacht gekommen sei, um ihn aufzumuntern, und Heinrich fragte sich nicht zum ersten Mal, ob in der Weinstube seit Neuestem gepanscht wurde. Ein Franzose, der Gensfleisch besuchen kam… So viel Fantasie brachte der Drucker im Suff meist gar nicht zustande.
    Irgendwann war der Abend hereingebrochen, und die Werkstatt schloss für den Tag. Als Heinrich über die Schwelle trat und den Heimweg antreten wollte, wartete Josephine auf ihn. »Was machst du denn hier?«, fragte er freudig überrascht und schenkte seiner jungen Verlobten ein breites Lächeln. Dann nahm er sie in die Arme.
    »Na, was wohl?«, fragte sie schelmisch zurück. »Bei mir zu Hause können wir uns nicht treffen. Wie du nur zu gut weißt, hat mein Vater geschworen, dich mit der Mistgabel über seinen

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