0919 - Bücher des Grauens
Weinberg zu scheuchen, wenn du mir auch nur zu nahe kommst. Und deine Eltern…«
Heinrich nickte wissend. Die Delormes aus Brizzenheim(alter Name des heutigen Stadtteils Mainz-Bretzenheim) waren katholischer als der Papst und betrachteten es schon als Sünde, wenn er und Josi auch nur Händchen hielten. »Und da hast du dir gedacht…«
Josephine strich sich eine Strähne ihres schulterlangen braunen Haares zurück und nickte grinsend. »… dass man im Schatten von St. Christoph genauso gut küssen kann, wie anderswo. Hast du Lust, das mal auszuprobieren?«
Welch ein Start in den Abend! Heinrich konnte sich keine schönere Beschäftigung vorstellen und schickte im sicheren Schutz der Schatten, die das alte Kirchengebäude warf, Zunge und Hände auf Wanderschaft.
Irgendwann blickte er auf und sah, wie Meister Gensfleisch seine Werkstatt verließ. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. »Der geht garantiert wieder saufen«, murmelte Heinrich und nickte in Richtung seines Arbeitgebers.
»Was? Wer?« Josephine, die mit den Gedanken noch ganz woanders gewesen war, drehte sich irritiert um. »Ach, der«, sagte sie dann abfällig. »Lass ihn doch, den alten Schluckspecht. Solange er seinen Hof erst dann versäuft, wenn du die Lehre beendet hast, kann es dir egal sein. Bei Fust bekommst du immer eine Anstellung.«
»Aber das ist es nicht«, sagte Heinrich leise und ließ von Josi ab, was diese mit einem erzürnten Murren quittierte. »Meister Gensfleisch ist… Ja, er tut mir leid, verstehst du? Er kann weit mehr, als er sich selbst eingesteht. Und anstatt sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu zerren, taucht er immer tiefer hinein. Komm, lass uns sehen, wo er hingeht.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, sagte Josephine entrüstet, doch Heinrich hatte sich schon aufgemacht, den Drucker zu verfolgen. Seufzend tat sie es ihm gleich. »Es stimmt schon, was meine Mutter sagte: Manchmal machen Frauen aus Liebe zu euch Idioten die dämlichsten Dinge.«
***
Es war ziemlich neblig geworden und die Fenster des Weinhauses waren bereits hell erleuchtet, als Heinrich und Josi das kleine Gebäude im Herzen der engen Kopfsteinpflastergassen erreichten, welche den inneren Kern der Domstadt am Rhein bildeten. Lautes Gemurmel drang durch die geschlossene Tür nach draußen - ein sicheres Anzeichen dafür, dass es drinnen bereits hoch her ging und sich die üblichen Zecher eingefunden hatten, um ihren Tagessold in Rebsaft umzutauschen. Heinrich sah, wie auch Meister Gensfleisch die zwei Stufen zum Eingang der Gaststätte erklomm, die Tür öffnete und im Haus verschwand.
»Ach, Meister«, sagte er seufzend und spürte, wie sich Josephine neben ihm pikiert versteifte.
»Ach, Meister?«, fragte sie. »Heini, ich verstehe dich nicht. Warum nimmst du den alten Kerl noch in Schutz? Gut, er ist dein Arbeitgeber und so, aber dennoch… Als Winzer sind meine Eltern mit den höchsten Kreisen der Stadt per Du, und daher weiß ich, was man so über Herrn Gensfleisch redet.«
»Und nur, weil man sich über ihn das Maul zerreißt, hat er keine zweite Chance verdient?« Heinrich schenkte ihr einen Blick, der finsterer war, als er gewollt hatte.
»Nein«, lenkte Josi ein, und strich ihm wie als stumme Entschuldigung sanft über den Arm. »Natürlich nicht. Aber schau ihn dir doch an: Er selbst ist es, der sich diese zweite Chance verweigert. Indem er lieber in Riesling statt in Handwerkszeug investiert.«
Sie hat ja recht , dachte er und nickte langsam. »Und dennoch finde ich, dass man ihm helfen sollte. Gerade weil er es selbst nicht tut. Ich weiß nur nicht, wie ich das anfangen kann.«
Heinrich blickte sich nach rechts und links um und spähte durch den Nebel, der in dicken Schwaden durch die enge Gasse zog. Als er sicher war, dass die Luft rein war und sie keine unliebsamen Beobachter hatten, nahm er seine junge Verlobte bei der Hand und zog sie mit sich zum Wirtshaus. Vor einem seiner Fenster machte er Halt und ging in die Knie, Josi folgte ihm widerwillig.
»Und was soll das werden, wenn es fertig ist?«, fragte sie resignierend.
»Nur mal schauen, was er macht.«
»Was soll er schon machen? Trinken.« Josephine rollte mit den Augen, blieb aber an Heinrichs Seite. Dort, wo sie gerade hockten, verdeckten sie mehrere dichte und etwa brusthohe Hecken vor den Blicken eventueller Passanten, von daher hatte sie nicht zu befürchten, bei dieser Aktion erwischt zu werden. Außerdem wurde der Nebel immer dichter, ein weiterer
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