0920 - Mandragoros Alptraum
die aus der Hausmauer gewachsen waren.
Ludmilla war dort wie in einem Nest gelandet, und Pepe Marcas hatte sie, nachdem er seinen ersten Schreck überwunden hatte, aus ihrer Lage gerettet.
Er war die Etagen hochgelaufen, hatte sich aus dem Fenster gebeugt und sie in das Zimmer hereingeholt. Dann war er mit ihr zusammen in seine Hausmeisterwohnung gegangen, die nahe des Hauseingangs lag.
Dort hatte inzwischen seine Frau Vicenca eine ebenfalls unglaubliche Entdeckung gemacht. Aus der Wand und auch aus dem Fußboden waren zwei Pflanzen gewachsen. Sie mußten unter der Erde gelauert und sich dort fortbewegt haben, bis eben zu einem bestimmten Ziel hin, und genau dort waren sie ins Freie getreten.
Pepe hatte dies akzeptiert. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, und auch seine Frau reagierte relativ gelassen. Beide empfanden die Umstände nicht als eine unmittelbare Bedrohung, aber die junge Russin wußte nicht, wie sie reagieren wollte. Ihr mußte es vorkommen, als wäre sie vom Regen in die Traufe geraten.
»Dieser Tag ist verflucht!« hatte Pepe gemeint und auch irgendwo recht behalten. Er war verflucht. Nichts lief mehr wie sonst. Wer die Pflanzen noch alles entdeckt hatte, wußte er nicht, aber gesagt hatte keiner der Bewohner etwas. Es gehörte hier zum alltäglichen Leben, daß auch ungewöhnliche Dinge passierten, die man achselzuckend hinnahm.
Aber nicht so etwas, das den Marcas’ widerfahren war, und beide waren ratlos.
Auch die Russin sagte nichts. Sie hatte um Wasser gebeten, es auch bekommen, hockte auf ihrem schlichten Stuhl wie ein scheues Reh und schaute ins Leere, wobei sich auf ihrem Gesicht ein Muster aus Schweißperlen abzeichnete.
Aber sie brach das Schweigen trotzdem. »Irgendwann werden die beiden Verbrecher kommen«, erklärte sie. »Ich weiß und spüre es.«
Sie schaute sich gehetzt um, als könnten Susa und Chicon jeden Moment zur Tür hereinstürmen. »Daß es für euch furchtbar ist, weiß ich. Ich will euch auch nicht in eine Sache hineinziehen, deshalb wäre es besser, wenn ich jetzt gehen könnte.«
Vicenca Marcas, ein sehr mütterlicher Typ, schaute Ludmilla eine Weile schweigend an. Dann lächelte sie und legte ihre Hand auf die des Schützlings. »Kind, wo willst du denn hin? Sag es uns! Wo willst du hin?«
»Ich weiß nicht.«
»Eben, du weißt es nicht. Du bist hier fremd. Du müßtest weglaufen, und diese Gegend ist keine gute für Mädchen oder junge Frauen wie dich. Glaub es mir. Auf Fremde, die schutzlos sind, wartet man doch nur. Außerdem wird es bald dämmern. Die Luft draußen ist beinahe noch lebensgefährlicher als hier. Die Kippen stinken. Der Geruch kommt mir vor, als wollte er uns töten. Bleib also hier bei uns. Das ist, auch wenn es schwer zu glauben ist, am sichersten.«
Auch wenn Ludmilla nicht alles verstanden hatte, senkte sie den Kopf und nickte.
»Möchtest du noch etwas trinken?«
»Gern.«
Pepe stand auf und holte aus dem Kühlschrank eine Dose Mineralwasser. Auf dem Kühlschrank stand der Fernseher. Er brachte ihnen die große, weite Welt in das Elend, das sie hier tagtäglich erlebten.
Sie kamen sich schon vor wie in einem Gefängnis. Wer einmal hier hockte, der kam so schnell nicht mehr weg.
Er riß die Dose auf und überreichte sie dem Gast mit einem schiefen Lächeln. »Was immer uns auch noch bevorsteht, es wird nicht so schlimm sein wie das, was man dir angetan hat.«
Ludmilla preßte ihre Handflächen um die kalte Dose und nickte.
»Ja, das ist sicherlich wahr. Es war schrecklich.« Sie schüttelte sich und begann zu weinen.
Sie hatte nicht alles erzählt, besonders auf Details verzichtet, aber was das Ehepaar wußte, war schon unwahrscheinlich. Beide kannten sich im Dreck der menschlichen Leidenschaften aus, sie erlebten hier in diesen beiden Hochhäusern genug, aber Ludmilla mußte eine Hölle durchgemacht haben, wie sie schlimmer nicht sein konnte.
Ludmilla trank langsam. An ihrem Hals war zu sehen, wie sie schluckte. Ludmilla starrte ins Leere, und es war bei ihr eine erzwungene Ruhe.
Vicenca reagierte anders. Sie blickte sich ständig um, und sie schaute dorthin, wo sich die Pflanzen aus der Wand und dem Fußboden gedrückt hatten. Nur sie sah die Bewegung aus der Wand, und sie konnte nicht mehr an sich halten.
»Es wächst wieder!« rief sie.
»Wo?« fragte Marcas.
»An der Wand!« Vicenca deutete mit dem ausgestreckten und zittrigen Zeigefinger hin.
Pepe sah es und sprang auf. Ludmilla blieb sitzen. Auch sie blickte
Weitere Kostenlose Bücher