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0920 - Welt der Stille

0920 - Welt der Stille

Titel: 0920 - Welt der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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wären sie leer.
    Das Schnaufen ertönte erneut, es kam näher. Die Winzertochter überlegte nicht lange - sie brauchte Deckung, und wenn diese Häuser ihr die bieten konnten, durfte sie nicht zögern. Nahezu blindlings rannte sie auf eines der seltsameren Bauwerke zu.
    ***
    Mainz, 1455
    Das Licht des Mondes verbreitete ein wenig Helligkeit, während Heinrich Delorme durch die nächtlichen Gassen der Stadt strich. Es war still geworden, still und leer. Vereinzelt huschte mal eine Katze vor ihm über den Weg, oder ein Pferd schnaubte in einem der Ställe, die er passierte. Die Tiere mochten noch aktiv sein, doch der Mensch hatte sich längst schlafen gelegt. Bis auf Heinrich.
    Verdammt, wo war sie nur?
    Als er am früheren Abend endlich an ihrem gewohnten Treffpunkt an der Christoph-Kirche angelangt war, die Ringe in der Hand und den Becher Wein in den Eingeweiden, war Josephine nicht dort gewesen. Heinrich hatte gewartet, doch als sie nicht auftauchte, war die Sorge in ihm gewachsen, es könne ihr etwas zugestoßen sein.
    Zunächst war er zum Haus ihrer Eltern gegangen. Schon von Weitem hatte er das Licht hinter dem Fenster ihrer Stube brennen sehen. Vater Becker war ums Haus gelaufen, seine Frau hatte bekümmert in der Tür gestanden - und Heinrich hatte erkannt, dass auch sie keine Ahnung hatten, wo ihre Tochter abgeblieben sein mochte. Sie wussten so wenig wie er, und sie machten sich ebenfalls Sorgen.
    Das war nun Stunden her, und noch immer zog er um die Häuser und suchte sie, doch von Josi keine Spur. Sie war wie vom Erdboden verschluckt, und der junge Lehrling hatte keinen Schimmer mehr, wo er noch nach ihr Ausschau halten sollte. Er bemühte sich darum, einen klaren Kopf zu bewahren, doch allmählich raubte ihm die Angst um seine Verlobte den Verstand.
    Entsprechend wenig überrascht reagierte er, als vielleicht fünf Meter vor ihm plötzlich ein Mann um die Ecke bog, der aussah, wie eine Mischung aus Mensch und Fisch. Die schuppige Haut der Kreatur glitzerte im Schein des Mondes, und aus den kleinen kiemenartigen Schlitzen, die sich rechts und links an den Seiten ihres Halses befanden, erklang ein leises Zischgeräusch.
    Heinrich blieb stehen und starrte die seltsame Erscheinung in einer Mischung aus Verwirrung und Amüsement an - dann erst begriff er, was er da sah! Das war keine Illusion, kein Trugbild, das ihm sein überreizter Geist vorgaukelte. Es war echt. Das Wesen dort war real.
    Heilige Muttergottes…
    Mit einem gewagten Sprung hechtete der junge Mann in den Schatten eines Hauseingangs. Das fremdartige Wesen hatte ihn noch nicht bemerkt, und wenn er sich ruhig genug verhielt, würde es vielleicht einfach weiterziehen. Heinrich presste sich ganz eng an die Hauswand und bemühte sich, möglichst flach zu atmen. Was im Himmel war das bloß? Und wo kam es her?
    Das Wesen verharrte einen Augenblick. Große, flache und lidlose Augen blickten durch die Nacht, suchten nach… nach ihm? War er ihm doch aufgefallen? Würde es gleich kommen und diese furchtbaren spitzen Krallen nach ihm ausstrecken? Er war nie ein Schläger gewesen, hatte sich nie des Spaßes wegen in Prügeleien verstrickt, die auch verhindert werden konnten. Doch nun ballte Heinrich Delorme die Fäuste. Sie zitterten.
    Schließlich wandte sich die Kreatur um und ging fort, weiter die Gasse entlang, aus der Heinrich gekommen war. Atemlos vor Angst starrte er ihr nach. Ob dieses Wesen… Der Gedanke war zu grauenvoll, als dass er ihn hätte zu Ende führen wollen, aber er musste. Ob dieses Monster dort wohl der Grund war, aus dem Josephine nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen war? Sollte sie ihm ebenfalls begegnet sein?
    Der Fischmann war bereits mehrere Dutzend Schritte voraus, als sich Heinrich vorsichtig aus seiner Deckung schlich und die Verfolgung aufnahm. Lautlos und immer auf Abstand bemüht, huschte er durch die nächtlichen Schatten, von Hauseingang zu Hauseingang, und folgte dem Unbekannten. Zu seiner großen Überraschung führte das Wesen ihn an einen Ort, der ihm bestens vertraut war.
    Hinter Meister Gensfleischs Werkstattfenster brannte trotz der späten Stunde noch Licht. Heinrich stockte der Atem, als er sah, wie das Monstrum auf die Tür des Hauses zuging. Es klopfte zweimal, dann erklang das Geräusch eines Riegels, der zurückgeschoben wurde, und als sich die Pforte öffnete, sah der Lehrling die Gestalt, die er und Josi schon vor Tagen in der Weinstube beobachtet hatten. Den rätselhaften Verhüllten. Sollten er

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