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0920 - Welt der Stille

0920 - Welt der Stille

Titel: 0920 - Welt der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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Nachtwind, der über das Wasser kam und von dort aus frische Luft in die Gassen der Stadt wehte, spielte leicht mit seinen zerzausten Haaren. »Ihr seid hier, um ungeschehen zu machen, was Gensfleisch unter dem Einfluss dieses Wesens vollbringt.«
    Zamorra schluckte. »Nicht nur ich. Ich habe eine Begleiterin, Nicole Duval. Allerdings wurden wir heute gegen Mittag voneinander getrennt. Ein paar Männer in dicken Kutten überrumpelten uns auf dem Weg zur Werkstatt des Druckers. Sie schlugen mich nieder und verschwanden mit meiner Partnerin unbemerkt in den Gassen der Stadt. Ich vermute, Ihr habt sie nicht zufällig gesehen?«
    Der Junge schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber vielleicht weiß ich, wo Ihr nach Ihr suchen könntet.«
    Als der Professor ihn nur fragend ansah, fuhr Heinrich fort. »Menz ist eine sehr fromme Stadt, müsst Ihr wissen. Menschen in Mönchsgewändern sind hier kein seltener Anblick, und meist führen ihre Wege zu ein und demselben Gebäude.«
    Natürlich! Mit einem Mal fiel es Zamorra wie Schuppen von den Augen. Der Trubel der letzten Stunden musste seinen Verstand ganz schön in Mitleidenschaft gezogen haben, wenn er jetzt schon nicht einmal mehr auf die naheliegendsten Schlüsse kam. »Der Dom.«
    Heinrich nickte knapp. »Falls die Männer, die Euch überfielen, tatsächlich Männer der Kirche waren, dürfte der Dom nicht der schlechteste Ansatzpunkt für Eure Suche sein.« Bevor Zamorra etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Ich möchte Euch einen Handel vorschlagen, wenn Ihr gestattet. Ich biete Euch meine Dienste bei der Suche nach Eurer Nicole, sofern Ihr im Gegenzug gewillt seid, mir bei der Rettung Josephinens zur Seite zu stehen.«
    Der junge Mann streckte die Hand aus und hielt sie dem Professor hin. »Abgemacht?« Seine Stimme klang fest und sicher, es war ihm sichtlich ernst.
    »Abgemacht«, sagte Zamorra und schlug ein. Und doch fragte er sich insgeheim, ob die junge Frau, deren grauenvolles Verschwinden er miterleben musste, es überhaupt lange genug in der Nebelsphäre aushalten würde, um eine Rettungsmission noch zu erleben…
    ***
    Das Haus war wie ein Palast aus einem Märchen. Dicke Teppiche bedeckten die Böden der vielen, eng geschnittenen Zimmer. Bunte Tapeten schmückten die Wände und an den Decken hingen Lampen ähnelnde Vorrichtungen, wie Josephine sie noch nie gesehen hatte. Überhaupt gab es einiges in dieser Wohnung, das ihr mehr als nur futuristisch vorkam.
    Seit Stunden schon strich sie durch die Räume des verlassenen Gebäudes, in dem sie Zuflucht gefunden hatte, und hatte noch immer nicht jede Tür geöffnet, jedes Zimmer durchschritten. Sie hatte die Küche besucht, mit offenem Mund den enormen Speisesaal bestaunt, das Silberbesteck und die Kristallgläser… Die dicken Vorhänge und Gardinen mit Spitze, welche die Fenster zierten. Die gepolsterten Sitzmöbel. Im Schlafzimmer die so eigenartige Kleidung im Schrank. Als Tochter eines rheinhessischen Winzers kam Josi nicht gerade aus armem Hause, und dennoch überstieg der nun vor ihr liegende, sie umgebende Luxus ihre kühnsten Vorstellungen. So mussten Könige leben, ach was, Götter! Und dennoch barg diese Wohnung kein Leben, außer dem ihren. Es war, als wäre nur das Gebäude seiner Zeit und seinem korrekten Kontext entrissen worden, nicht aber seine Bewohner.
    Die umfangreiche Bibliothek im oberen Stockwerk, mit ihren Büchern, Büchern, Büchern, faszinierte Josephine am meisten. Waren das nicht genau die Werke, die Heinrich und dieser versoffene Gensfleisch zu schaffen beabsichtigten? Nur machten diese Exemplare - die in einer Sprache verfasst waren, die Josephine selbst dann nicht hätte lesen können, wenn sie des Lesens mächtig gewesen wäre - auf sie einen weitaus fortgeschritteneren Eindruck. Fast so, als läge zwischen ihnen und dem, was Gensfleisch in Menz fabrizierte, eine Entwicklung von Jahren, vielleicht sogar Jahrhunderten.
    Der Gedanke war absurd. Andererseits: Was an dieser Situation war das nicht?
    Die Bibliothek war mit einer Feuerstelle ausgestattet, wie Josephine erfreut feststellte. Im Nu machte sie sich daran, das trockene Holz in ihr zu entzünden, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte.
    Dann hörte sie das Geräusch.
    Etwas… atmete.
    Es war kaum mehr als ein Zischen, ein leise rasselndes Hauchen, das in ihrem Rücken erklang, mehrere Meter entfernt. Scharniere quietschten leise, Bodendielen knarrten. Jemand Fremdes hatte die Bibliothek betreten, und dem Klang nach war er

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