0920 - Welt der Stille
die Zeit Untertan zu machen. Der princeps iuventutis hatte gelogen, um ihre Hinrichtung aufzuschieben.«
Verständlich, befand Nicole und nickte. Was hätten sie auch sonst tun sollen? Terticus I. war damals überhaupt nur durch die Kraft des falschen Odins durch die Zeit gereist. Allein war er dazu nicht in der Lage gewesen. Und da er, Zamorra und sie in Trier der Ansicht gewesen waren, jenes mysteriöse Wesen geschlagen zu haben, konnte Terticus I. auch nicht mehr darauf hoffen, diese Erfahrung wiederholen zu können.
»Statt also für Aurelian zu arbeiten«, fuhr Martinus fort, »bemühten sich Vater und Sohn darum, heimlich aus Rom zu fliehen, bevor der Kaiser ihre Täuschung bemerkte. Und dies gelang ihnen auch, dank uns. Dank der Kirche.«
Allmählich verstand Nicole. »Eine Untergrundbewegung? Wenn ich mich recht entsinne, waren die Christen damals nicht gerade gut gelitten.«
»Korrekt. Terticus gelang der Kontakt zu einer christlichen Geheimorganisation, die über gewisse… Transportwege verfügte, auf denen gefährdete Personen aus der Stadt und aus dem Land befördert wurden, ohne Aufsehen zu erregen. Einen davon schlugen auch die beiden gallischen Möchtegernkaiser ein.«
Unfassbar. Was sie hier hörte, übertraf ihre kühnsten Erwartungen. »Und auf dieser Reise berichteten sie den Christen, die ihnen halfen, von ihrem Leben, richtig?«, hakte Nicole nach. »Von der Zeit, die Terticus I. in der Nebelwelt und der Zukunft verbracht hatte…« Echt erschreckend, welche Folgen manche Ereignisse haben können. Dann ist all das hier, dieser ganze wirre Orden, also ein Resultat aus dem, was wir in Trier erlebten!
»Sie warnten die Gläubigen«, endete Martinus seinen Bericht. »Warnten sie vor dem Dämon mit den rot glühenden Augen. Vor der Welt, aus der er stammte, und vor den Wesen, die in ihr darauf lauerten, in unsere Sphäre einzudringen und sie zu erobern. Wir behielten sie im Herzen und im Geist - bis heute.«
Der Dämon mit den rot glühenden Augen… Also steckte der falsche Odin hinter all diesem Chaos. Nicole schüttelte den Kopf, abermals fassungslos ob der Erkenntnisse. »Und doch verstehe ich eines noch nicht, Bruder«, sagte sie dann. »Wenn das der Ursprung Ihrer Prophezeiung ist, wie kamt Ihr dann an das Wissen über Gutenb… über Gensfleisch und sein Tun?«
Der Mönch hob den Kopf und nickte in Richtung des schlafenden Greises, der nach wie vor in der Mitte der Kammer lag, die Augen starr geradeaus gerichtet, und mit der Kraft seiner Gedanken das magische Energiefeld aufrecht erhielt. »Von ihm. Als er mir erschien, füllte er die Lücken, die die Prophezeiung hatte. Er erklärte uns, was geschehen würde. Und dann wurden wir aktiv.«
Als Nicole den Kopf drehte und sich ein weiteres Mal den alten Mann betrachtete, war ihr, als erinnere er sie an irgendwen. An jemanden, den sie einst kannte. Doch der Eindruck verflog schnell.
Ich muss hier raus und Zamorra finden , dachte die Dämonenjägerin. Ihn und seine Zeitringe. Bevor es zu spät ist.
***
Es war nicht schmerzhaft, und es dauerte nur wenige Sekunden - sofern die Zeit im Kontext dieses Erlebnisses überhaupt noch eine Bedeutung hatte. Josephine spürte, wie der Nebel sie umfasste, sie umspülte wie die sanften Wellen eines Meeres. Stärker und stärker strichen die weißen Schwaden über ihren Körper - und machten sie zu einem Teil von sich!
Panik brandete in der Winzertochter auf, als sie sah, wie ihre Füße und Beine, wie ihr gesamter Leib in Dunst überging. Die Erfahrung war gespenstisch, überstieg ihren Horizont und war doch faszinierend zugleich. Und nach wenigen Augenblicken war sie vorbei.
Als die Schwaden von ihr abließen, fand sich Josephine Becker in einem dichten Grau wieder, einer nahezu blickdichten Nebellandschaft. Mit zitternden Fingern tastete sie sich über die Kleidung, berührte jede Falte, jeden Finger, jeden Teil ihres Körpers, während ihr Tränen der Überforderung die Wangen hinab liefen. War sie auch wirklich da, wieder real und fest? Erst als sie sich dessen sicher geworden war, wagte sie es, sich genauer umzublicken.
Was war geschehen? Wohin hatte dieser… dieser Teufel in Gensfleischs Werkstatt sie gebracht? War dies vielleicht das Leben nach dem Tod?
Sie stand auf festem Untergrund, der wie gefrorenes Erdreich aussah, ein Feld im Winter. Doch mehr als vielleicht zwei Schritte konnte sie nicht sehen, zu undurchdringlich war der Nebel, der sie nach allen Richtungen umgab. Wohin sie auch
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