0923 - Die Henkerin
sich über sein Erschrecken.
Sie streckten ihm die Zungen heraus und huschten weiter, um anderen Besuchern Angst zu machen.
Ihre weißen Gesichter leuchteten in dem UV-Licht der Gänge geheimnisvoll auf.
De Salier wartete, bis sich sein Herzschlag wieder normalisiert hatte. Er gestand sich ein, viel zu nervös zu sein. Er mußte ruhiger werden, viel ruhiger, dann würden die Dinge von ganz allein laufen. Nervosität brachte nichts.
Er ging dorthin, wo die Kids hergekommen waren. So betrat er wieder ein Gewölbe des Schreckens, wobei er sich darauf verließ, daß es das letzte war und er sein Ziel hier finden würde.
»Carlotta…« Er sprach den Namen leise aus und spürte auf seinem Rücken das Kribbeln. Es gab in seinem Leben keine Gestalt, die er so haßte, und er spürte wieder die Ströme durch seine Adern schießen. Er wollte sie sehen, auch dann, wenn sie lebte, und er würde versuchen, ihr die Waffe aus der Hand zu winden.
Dazu mußte er sie überraschen.
Wohin?
Er schaute nach vorn, wo ein Arzt des Mittelalters dabei war, einem Patienten ein Bein zu amputieren. Der Patient saß auf einem Stuhl, das Bein selbst war auf einem Holzbrett festgeschnallt worden. Die Amputation wurde ohne Betäubung durchgeführt, wie am Gesicht des Patienten abzulesen war.
Er ging daran vorbei.
Links leuchtete ein düsteres Licht. Der rötliche Schein eines Feuers fiel von der Decke und erfaßte mehrere Szenen zugleich. Schatten bewegten sich, aber nicht lautlos, denn es waren die Tritte der Besucher zu hören.
Eine helle Stimme schrie plötzlich auf. Da hatte jemand Angst bekommen. Der Schrei war hinter dem düsteren Licht aufgeklungen, und Godwin de Salier wollte nachschauen.
Ihn interessierte nur diese eine Stelle, deshalb sah er sich die anderen Szenen erst gar nicht an, und er hörte die Stimme eines jungen Mannes. »Stell dich doch nicht so an!«
»Was heißt hier anstellen?« rief die Frau zurück. »Die hat mich berührt.«
»Eine Wachsfigur, wie?«
»Ja, eine Wachsfigur. Scheiße auch! Schau dir doch das Blut an. Da ist eine Wunde. Gib mir mal ein Taschentuch. Oder hast du ein Pflaster?«
»Das habe ich nicht.«
»Kann ich mir fast denken. Du hast ja nie was.«
»Mach dich doch nicht irre, nur weil du einen Kratzer abbekommen hast, verflucht!«
»Sei ruhig.«
Godwin de Salier war stehengeblieben. Er starrte vor sich hin, aber seine Gedanken schlugen regelrechte Wellen.
Da war eine Frau verletzt worden, und das nicht ohne Grund. Wenn sie von einer Bewegung der Wachsfigur gesprochen hatte, wollte er ihr das sogar glauben.
»Carlotta, ich habe dich!« flüsterte er, und seine Furcht war plötzlich verschwunden.
Er glaubte fest daran, daß es auf ihn ankam. Auch wenn er sie noch nicht sah, wußte er doch, wie er in ihre Nähe gelangte. Er brauchte nur dem Klang der Stimmen zu folgen, denn das Paar stritt sich noch weiter. Die Frau beschwerte sich darüber, daß ihr Angetrauter nicht behutsam genug mit ihrer Wunde umging, dann aber war sie doch zufrieden und wollte weitergehen.
Das klappte nicht.
Plötzlich stand Godwin vor ihnen. So rasch, daß sich beide erschraken. »He, wo kommen Sie denn her?« flüsterte der Mann. Er war klein, trug eine knielange Khakihose und hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt. Vor der mageren Brust baumelte eine Kamera. Das bunte Hemd war mit Schweißflecken bedeckt.
Seine Frau überragte ihn. Eigentlich war das Paar wie prädestiniert für das Witzblatt.
»Ich bin ein Besucher.«
»Ja, schon gut.«
»Was ist denn mit Ihrer Frau?«
»Wieso, was soll sein?«
»Ich hörte sie schimpfen.«
Der Mann winkte ab. »Halb so schlimm, sie hat sich irgendwo gestoßen und blutet am Arm.«
Das wollte die Person auf keinen Fall auf sich sitzenlassen. »Moment mal, Rudy, ich habe mich nicht gestoßen, ich habe mich sogar sehr vorsichtig bewegt. Die Wunde hat einen anderen Grund. Auch wenn ihr beide mich jetzt für verrückt haltet, da hat sich jemand bewegt.«
»Hör doch auf, Edith, du machst den Herrn ja konfus!«
»Nein, nein, Sir, macht Ihre Frau nicht. Sagen Sie, Madam, stimmt das wirklich?«
»Ich lüge nicht!«
»Um Himmels willen, das habe ich auch nicht behauptet. Ich hätte nur gern gewußt, wo es passiert ist.«
Auch wenn Rudy die Augen verdrehte, seine Frau war froh, einen Zuhörer zu haben, und sie erklärte Godwin haargenau, wo ihr das Mißgeschick widerfahren war.
»Bei einer Frau?«
»Ja, gehen Sie nach rechts.« Sie zeigte dorthin. »Die sieht ja
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