0923 - Die Henkerin
ihm.«
»Ich werde ihn nicht kennenlernen!« sagte der Bretone.
»Das weiß ich nicht.«
»Er wird meine Seele nicht bekommen, das schwöre ich dir. Nein, ich bin gegen ihn.«
»Das sagen viele. Aber keine Sorge, er hat dich mir überlassen. Ich werde gleich zuschauen, wie du stirbst. Und es wird mir ein großes Vergnügen sein, deinen Kopf rollen zu sehen. Der Horror hier ist unecht, ich werde dafür sorgen, daß er echt wird.«
Die Angst kam. Sie schoß in ihm hoch. Godwin krampfte sich innerlich zusammen. Jetzt, wo sich beide nicht mehr unterhielten, wurde ihm bewußt, in welch einer schwierigen Lage er sich befand.
Aus eigener Kraft würde er da nicht mehr herauskommen.
Trotz der Angst versuchte er es. »Du wirst nicht entkommen, Carlotta. Man wird dich finden, das weiß ich genau. Ich bin nicht allein. Ich habe Freunde hier…«
»Das weiß ich.«
»Starke Freunde.«
»Nicht stärker als die Hölle.«
»0 doch, sie haben gegen sie gekämpft und…«
»Kevin, Kevin!« Die laute Stimme eines Mannes unterbrach die Unterhaltung der beiden.
»Kevin, wo bist du?«
Kevin gab keine Antwort.
Der Mann suchte wahrscheinlich seinen Sohn, der sich verdrückt hatte. Man hörte ihn fluchen, dann rief er wieder nach seinem Jungen und erklärte ihm, daß das Dungeon bald geschlossen wurde.
Kevin ließ das kalt. Er ging seinen eigenen Weg und gab auch auf ein erneutes Rufen hin keine Antwort.
Nach wie vor lastete der Druck der Klinge auf Godwins Nacken. Er bewegte nur seine Augen, denn jetzt hielt auch er automatisch nach dem Jungen Ausschau. Er dachte nicht mehr an sich, sondern nur an den anderen. Wenn der plötzlich erschien und sah, was sich hier abspielte, würde Carlotta auf ihn keine Rücksicht nehmen.
Sie hatte einen ähnlichen Gedankengang, denn sie flüsterte: »Soll er kommen, soll er nur kommen, der Kleine…«
»Himmel, willst du ihn…?«
»Jede Seele zählt!«
Godwin de Salier schloß für einen Moment die Augen. Plötzlich war sein eigenes Schicksal uninteressant geworden, es zählte nur für ihn dieser unbekannte Junge mit dem Namen Kevin.
Noch hatte er ihn nicht gesehen.
Er hörte ihn.
Schritte - tapsend, etwas unsicher.
Der Bretone öffnete die Augen und sah die Bewegung außerhalb des Lichts. Ein Schatten wanderte über den Boden, genau in seine Richtung hin.
Zum Schatten gehörte eine Gestalt. Ein Junge - Kevin!
Plötzlich war er da, blieb stehen und beobachtete mit großen Augen die Szene…
***
In diesen für ihn langen Augenblicken betete der Bretone darum, daß die Henkerin ihre Drohung nicht ausgerechnet jetzt in die Tat umsetzte.
Kein Mord vor den Augen eines Kindes!
Und Kevin war ein Kind. Um die zehn Jahre alt. Seinem Vater mußte man schon den Vorwurf machen, daß man ihn in diese schreckliche Welt mitgenommen hatte. Manche kriegten schreckliche Alpträume oder konnten nicht mehr schlafen.
»Kevin…«
Wieder hörten sie den Ruf, aber diesmal schon weiter entfernt. Die Begleitperson war den falschen Weg gegangen.
Kevin schwieg auch weiterhin, denn er war von dem Geschehen einfach zu sehr mitgenommen und fasziniert. Er war für sein Alter normal groß, trug eine kurze, bunte Hose, ein blaues T-Shirt, Turnschuhe und hatte sich die Baseball-Mütze verkehrt herum auf den Kopf gesetzt. Obwohl er sich kaum bewegte, war ihm anzusehen, daß es hinter seiner Stirn arbeitete und er nicht wußte, was er tun oder wie er die Lage einschätzen wollte. Sicherlich überlegte er, ob das, was er sah, nun echt war oder auch nur in Wachs gegossen.
Auf dem Gesicht spiegelten sich wahre Geschichten wider. Unwissen, Mißtrauen, Furcht, Hoffnung, das alles zeichnete sich ab, und wenn der Junge etwas tat, dann ließ er sich bestimmt nicht von seinem Verstand leiten, sondern vom Gefühl.
Noch lag eine ziemlich große Distanz zwischen dem Geschehen und ihm selbst.
Kevin verkürzte sie, indem er einen Schritt nach vorn ging.
Daran konnte der Bretone nichts ändern, aber er spürte plötzlich die Furcht. Wenn der Junge weiterging, geriet er in eine direkte Gefahr, und das mußte auf jeden Fall vermieden werden.
Es fiel ihm schwer, die Worte zu sagen. Er mußte sich erst die Kehle freiräuspern, und auch dann drang nur ein Flüstern aus seinem Mund. »Bitte, Kevin, geh weg!«
Der Junge erstarrte. Zum erstenmal war er angesprochen worden. Zudem noch von einem Mann, der eigentlich nicht leben durfte, weil er doch aus Wachs war - oder?
Kevin rieb seine Hände an den Oberschenkeln trocken.
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