0923 - Die Henkerin
»He, du - kannst sprechen?«
»Geh weg, Kevin, geh zu deinem Vater.«
»Das ist mein Onkel.«
»Dann geh zu ihm.«
»Gleich.«
»Sofort!« Godwin de Salier schwitzte Blut und Wasser, und zugleich überkam ihn das Wissen, etwas falsch gemacht zu haben. Er hätte den Jungen nicht ansprechen sollen, denn gerade durch diese Ansprache hatte er ihn neugierig gemacht.
Kevin war verlegen. Er ruckte an seiner Mütze herum. Dann wußte er nicht, ob er grinsen oder ernst bleiben sollte. Einige Male schüttelte er den Kopf, bevor er sich endlich überwunden hatte und auch sprechen konnte.
»Du bist nicht aus Wachs.«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Und die Frau hinter dir? Die mit dem Schwert? Liegt es auf deinem Nacken?«
»Ja, mein Junge.«
»Ist sie auch nicht aus Wachs?«
»Doch«, gab Godwin flüsternd zurück und merkte, wie ihm der Schweiß in den Mund rann. »Sie ist ganz bestimmt aus Wachs.«
Kevin mußte lachen. »Super«, sagte er. »Echt cool. Warum hast du dich denn unter das Schwert gestellt? Das sieht aus, als wolltest du dich köpfen lassen.«
»Nein, aber…«
Kevin hörte nicht hin. »Ich kenne das.«
»Was? Das Köpfen?«
»Klar.«
»Und woher kennst du es?«
»Von Videospielen. Ich habe ein Spiel von einem Kopfjäger, der hinter Aliens her ist. Tolle Sache, sage ich. Mein Dad ist zwar sauer, aber ich spiele immer bei meinem Onkel, der ist noch jünger und ebenfalls Fan. Der ist der beste Köpfer…«
De Salier verdrehte die Augen. Er wußte, daß er kaum noch eine Chance hatte sich aus dieser Lage herauszumanövrieren. Kevin tat genau das, was er auf keinen Fall sollte, denn er ging im wahrsten Sinne des Wortes noch einen Schritt weiter.
So verkürzte er die Distanz zwischen ihm und dem Bretonen, der das Gefühl hatte, in einer immer enger werdenden Schlinge zu stecken. Er wußte nicht, wie er da wieder herauskommen sollte, aber Kevin interessierte sich nicht mehr für ihn, sondern mehr für Carlotta, denn er sprach jetzt von ihr.
»Die Frau sieht stark aus. Wie eine bei mir auf dem Gameboy. Die hat auch ein Schwert.«
»Das hier ist kein Spiel.«
»Ist es echt?«
»Ja.«
»Spannend, richtig spannend.« Kevin ließ sich nicht beirren. Was einem womöglich Angst gemacht hätte, war für ihn nicht mehr als ein Spiel, und er trat jetzt einen Schritt zur Seite, um gleichzeitig einen kleinen Bogen zu schlagen, denn nur so kam er an sein Ziel, das diesmal Carlotta hieß.
Sie war gnadenlos, sie diente dem Teufel und seinen Vasallen, und sie hatte zu verstehen gegeben, daß sie auch auf Kinder keine Rücksicht nehmen würde.
Kevin wußte das nicht. Er war nur neugierig, und er kümmerte sich auch nicht um die Warnung des Mannes.
»Geh jetzt, Junge! Um alles in der Welt, du mußt von hier verschwinden. Ich bitte dich.«
»Gleich, Mister, gleich.«
»Nein, sofort!«
»Erst will ich mal schauen.«
»Wohin?«
»Ich will die Frau sehen. Die hat sich gar nicht bewegt. Lebt sie, oder ist sie aus Wachs?«
De Salier kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn mit dem nächsten Schritt stand der Junge bereits neben der Henkerin, und Furcht verspürte er nicht.
Er hob seine rechte Hand an und strich an den nackten Beinen der Frau entlang, die sich nicht rührte. Kevin hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt, damit er an ihr hochschauen konnte, während die Handfläche noch immer über das Bein glitt.
Am Oberschenkel stoppte sie. »Die fühlt sich vielleicht komisch an, Mister.«
Godwin quälte sich ein »Warum?« über die Lippen.
»Die ist gar nicht so richtig komisch wie die anderen Figuren, die ich angefaßt habe.«
»Du irrst dich, Kevin.«
»Nee…«
»Doch, sie ist aus Wachs.«
Kevin schwieg, und der Bretone hoffte, daß er damit etwas erreicht hatte, doch er fiel wieder rein, denn der Junge stöhnte plötzlich auf. Es war kein Stöhnen durch irgendeinen Schmerz bedingt, es war der Laut einer Überraschung.
»Mann, das ist ein Ding! Das ist ja super!«
»Was denn?«
»Die Frau hier. Das Gesicht!«
»Was ist damit?«
Kevin gab keine Antwort, denn er war damit beschäftigt, auf das kleine Podest zu klettern, auf dem die Wachsfigur stand. Was er herausgefunden hatte, das wollte er auch aus der Nähe sehen. Für ihn bot der Unterstand genügend Platz. Außerdem war ihm etwas aufgefallen, was er kaum glauben konnte. Es hatte sich im Gesicht der Frau abgespielt, denn da war eine Bewegung gewesen.
In den Augen!
Kevin zog das linke Bein nach und stand nun auf dem Podest und in
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