0923 - Die Henkerin
unmittelbarer Nähe der Wachsfigur, mit der er einfach nicht zurechtkam.
»He, lebst du?«
Carlotta gab keine Antwort.
Er versuchte, ihr in den Bauch zu kneifen. Dabei grinste er, weil die Brüste so nahe waren.
Sie bewegte sich nicht.
De Salier aber schwitzte Blut und Wasser. Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg, aber ihm fiel keiner ein. Wenn er sich bewegte und einfach losrannte, würde die Machete der Henkerin trotzdem schneller sein und in seinen Nacken hacken. Das alles mußte er bedenken, und wenn er nicht mehr war, konnte sie sich um Kevin kümmern und dessen Seele dem Teufel überlassen.
Das alles ging ihm durch den Kopf, brachte ihn der Lösung aber nicht näher.
Dafür hatte Kevins Onkel die Suche noch immer nicht aufgegeben. Wieder rief er nach seinem Neffen.
Kevin dachte gar nicht daran, eine Antwort zu geben, Carlotta interessierte ihn viel stärker.
Godwin de Salier überlegte, was er noch tun konnte. Wenn Kevin schon nicht antwortete, dann wollte er das für ihn übernehmen. Er öffnete den Mund, und er wußte genau, daß es ihm schwerfallen würde, so laut zu reden wie möglich.
Der Bretone kam nicht mehr dazu.
Kevin machte ihm einen Strich durch die Rechnung, als er sagte: »Oh, die lebt ja!«
***
Ich kannte The London Dungeon und hielt mich bei den schaurigen und überaus realistisch dargestellten Szenen nicht länger auf. Der Kartenknabe hatte mir etwas von einem letzten oder hinteren Gewölbe erzählt, und dort wollte ich so rasch wie möglich hin.
Ich ging so schnell wie möglich, allerdings rannte ich nicht, denn ich wollte auch immer meine Umgebung im Auge behalten. Mit Überraschungen konnte man rechnen.
Es befanden sich nur noch wenige Besucher in diesen finsteren Verliesen. Ich störte keinen, mich störte man nicht, und so kam ich gut weiter.
»Kevin!«
Im ersten Moment war ich irritiert, als ich die Stimme des Mannes hörte.
Ich blieb stehen.
Der Ruf wiederholte sich mehrmals. Ich ging davon aus, daß sich ein Kind selbständig gemacht hatte, was in dieser verdammten Umgebung nicht gerade von Vorteil war.
Und dann dachte ich noch an die Henkerin, die auch auf Kinder keine Rücksicht nehmen würde.
Der Ruf wiederholte sich.
Ich wußte jetzt, wo er aufgeklungen war. Weiter vorn, aber auch mehr von der rechten Seite her.
Das war mein neues Ziel.
Zwei kichernde Teenager wären beinahe gegen mich gelaufen, weil sie so schnell liefen. Sie hielten sich dabei an den Händen gefaßt, als wollten sie so rasch wie möglich weg. Und sie sprachen von der Welt des Jack the Ripper, die sie sich noch ansehen wollten.
»Kevin…!«
Ich war in das nächste Gewölbe getreten und hatte das Ende des ungewöhnlichen Museums fast erreicht. Der Ruf schallte direkt in mein rechtes Ohr. Für einen Moment blieb ich noch stehen, dann drehte ich mich um und lief hin.
Der Mann war jünger als ich. Er stand da wie verloren, schaute sich um, bewegte sich im Kreis und knurrte dabei. Er drohte Kevin mit der Hölle auf Erden, wenn er ihn erwischen würde, und als er mich entdeckte, erschrak er heftig.
Ich blieb stehen. »Wer ist Kevin?«
»Mein Neffe.«
»Und?«
Der ungefähr fünfundzwanzigjährige Mann mit der kurzen, roten Hose und dem hellen Hemd hob die Schultern. Er wischte über sein Gesicht und dann durch das blonde Haar. »Er ist abgehauen. Einfach so. Es war ihm zu langweilig, immer bei mir zu bleiben. Er wollte selbst etwas erleben. Mir hat er gesagt, er käme sich vor wie in einem Videospiel. Er wollte selbst bestimmen, was es alles für ihn zu erleben gab. Ja, verdammt, das hat er mir gesagt.«
»Sollen wir ihn gemeinsam suchen?«
»Warum? Was geht Sie Kevin an?«
»Im Prinzip nichts, aber er ist ein Kind, und außerdem wird hier gleich dichtgemacht.«
»Kevin ist zehn und fast so ein Typ wie der aus dem Film.« Der Mann verzog das Gesicht. »Kevin allein in der Schreckenshöhle. Fast könnte ich darüber lachen.«
Im Gegensatz zu mir, denn ich dachte an die Henkerin, aber das sagte ich dem Mann nicht. Statt dessen schlug ich ihm noch einmal die gemeinsame Suche vor.
Er strich über seine verschwitzte Wange. »Warum wollen Sie sich das antun?«
»Ich mag Kinder. Vielleicht habe ich Angst, daß Ihrem Neffen hier etwas geschieht.«
»Nein, das brauchen Sie nicht. Der spielt mir nur einen Streich. Kevin ist mit allen Wassern gewaschen. Wenn er zu mir kommt, ist das sowieso anders als bei ihm zuhause. Da sorgt schon sein Vater für ein gewisses Benehmen. Der hätte ihn
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