0924 - Das Totenbuch
gefahren. Auch in den Wagen war die Luft um keinen Deut besser, eher noch schlechter, denn die Ausdünstungen der Fahrgäste belasteten die Atemluft noch weiter. Spaß jedenfalls machte diese Fahrt nicht.
Nach drei Stationen stiegen sie aus und bewegten sich auf ihr Ziel zu. Es lag in Soho, nicht weit vom Chinesenviertel entfernt, praktisch am Beginn.
Sommer bedeutete in London auch die Zeit der großen Touristenschwärme, die vom Festland herüberschwemmten, wobei die Deutschen in der Mehrzahl waren. Viele von ihnen suchten noch immer das alte Soho des Jack the Ripper, was es natürlich nicht mehr gab.
Der Nepp hatte überlebt. Zumindest in den Schuppen, in denen viel Fleisch geboten wurde.
»Wie heißt das Lokal denn?«
»Golden Dragon.«
Shao verdrehte die Augen. »Da hätten sie sich auch einen originelleren Namen einfallen lassen können.«
»Nicht unser Problem.«
»Du sagst es. Haben Sie denn dort den Toten gefunden? Ich meine, im Lokal selbst.«
»Nein, in einem Anbau unter dem Dach.«
»Wo wir auch hinmüssen?«
»Kann sein.« Suko lächelte. »Du hast wohl heute deinen großen Fragetag«
»Ich will nur informiert sein.«
»Das bist du jetzt.«
Beide fielen inmitten der Menschen nicht auf, weil sie sich auch nicht extravagant gekleidet hatten.
Shao trug blaßgelbe Jeans und ein blaues, langes Shirt, auf dessen Vorderseite eine Sonne leuchtete, die zum Glück keine Wärme abstrahlte.
Suko hatte wegen der Waffe auf eine Jacke nicht verzichten können, die allerdings aus dünnem Leinen bestand.
Um in das Lokal zu gelangen, mußten sie eine dreistufige Treppe hoch. Flankiert wurde sie von zwei goldenen Säulen, bei denen schon ein Großteil der Farbe abgeblättert war. Mehrere Drachenmäuler starrten die Besucher von den Säulen herab an und streckten ihnen ihre rötlichen Zungen entgegen. Damit konnte man heutzutage keinen Touristen mehr anlocken, denn China-Lokale schossen auf dem gesamten Kontinent wie Pilze aus dem Boden. Gute, aber auch viele schlechte.
Die Tür stand offen, und der Geruch drängte nach draußen. Ein etwas säuerlicher Gestank, der daher rühren konnte, daß auf den Tischen die zahlreichen Warmhalteplatten standen und darauf die dampfenden Gerichte.
Shao zog die Nase kraus. »Wer sich bei diesem Wetter an einen Tisch setzt und ißt, dem kann man nicht helfen.«
»Wie uns.«
»Noch habe ich nichts bestellt«, sagte sie und strich über ihr Haar, das sie hochgebunden hatte und auf dem Kopf einen Knoten bildete. Groß war der Raum nicht. Es gab nicht mehr als zwölf Tische, die halbrunde Theke und dahinter die Tür zur Küche, in der es noch wärmer war.
Unter der schwarz lackierten Decke, die wegen der zahlreichen kleinen Lichter einen Sternenhimmel zeigen sollte, drehte sich müde ein Ventilator. Er bewegte sich so langsam, daß seine Flügel jeden Augenblick abzufallen drohten.
Vier Tische waren besetzt. Die Menschen aßen, tranken und schwitzten dabei. Immer wieder wischten sie mit ihren Tüchern über die Gesichter, während das Personal immer lächelnd und freundlich blieb.
Shao stieß Suko leicht an. »Hast du hier schon einen deiner vielen Cousins entdeckt?«
»Nein, noch nicht. Kann aber noch kommen.«
»Und was willst du dann machen?«
»Ich werde ihn zu einer Hausbesetzung überreden.«
Shao lachte nur glucksend und ging dann auf einen Tisch an der Wand zu. Von dieser Stelle aus hatten sie einen guten Überblick. Sie setzten sich, und zwei der vier Stühle blieben frei.
Sofort war ein Kellner da, der sie etwas erstaunt anschaute. Er war es wohl nicht gewohnt, daß Landsleute kamen, um in diesem Lokal zu speisen.
»Für Feinschmecker haben wir auch Gerichte, die nicht auf der Karte stehen«, sagte er.
Shao wußte Bescheid. »Das mag ja sein, aber wir essen weder Hunde- noch Katzenfleisch.«
»Das sagte ich nicht.«
»Wir kennen euch aber.«
Der Kellner wußte nicht, was er erwidern sollte. Suko half ihm aus der Verlegenheit, indem er zwei Flaschen Wasser bestellte. Dann lächelte er Shao an. »Jetzt hast du ihn aber beleidigt.«
»Habe ich die Unwahrheit gesagt?«
»Nein.«
»Eben.«
Karten lagen bereit. Shao und Suko schlugen sie auf. Zumindest Suko tat so, als würde er darin lesen, tatsächlich aber schielte er zur Theke hin, wo der Kellner stand und mit einem älteren Mann flüsterte, der ein weißes Hemd zur schwarzen Hose trug und sich trotz der Hitze noch eine schwarze Fliege an den Hals geklemmt hatte. Er war wohl der Chef des
Weitere Kostenlose Bücher