0924 - Das Totenbuch
seine Realität verlassen, und er blieb zwischen den beiden Wächtern stehen, die sich nicht rührten.
Suko öffnete den Mund. Er war ein Mensch, der mußte atmen, und das versuchte er.
War die Luft anders? Kühler vielleicht?
Es konnte sein, mußte aber nicht. Jedenfalls wollte Suko versuchen, einen über die Sicht hinausgehenden Kontakt mit den Wesen dieser Welt aufzunehmen.
Zuvor aber schaute er zurück.
Er wollte Shao einen Gruß zusenden - und erschrak.
Er sah sie, sie stand noch immer auf demselben Fleck. Aber sie hatte sich verändert. Zumindest für ihn, denn die Umrisse ihres Körpers rieselten auseinander.
Das war seltsam.
Suko überlegte, ob es Sinn hatte, noch weiter in dieser Welt zu bleiben. Er startete einen ersten Versuch. Zuerst hob er seinen Arm an, dann streckte er ihn aus, um mit der inzwischen gespreizten Hand in die gesichtslose Fläche des einen Wärters zu fassen.
Er griff hinein - und hindurch!
Nichts war zu spüren.
Es gab das Gesicht nicht. Es war einfach nicht vorhanden. Es war feinstofflich. Es mußte aus Plasma bestehen, wie auch immer, und Suko zog den Arm wieder zurück.
Genau, da spürte er auch das Kribbeln.
Gefahr!
Sein Gehirn war darauf trainiert, aber den wichtigen und richtigen Zeitpunkt hatte es verpaßt. Für Suko änderte sich alles…
***
Wohl war Shao nicht, als sie ihrem Freund nachschaute, der geradewegs auf das Ziel zuschritt. Sie konnte sich zwar nicht in ihn hineindenken, aber sicherlich verspürte er den gleichen Schauer auf der Haut, wie sie ihn bekommen hatte. Es lag nicht nur allein an Sukos Versuch, das Rätsel zu lösen, es hing auch mit diesem Phänomen zusammen, für das Shao beim besten Willen keine Erklärung fand.
Diese Bild, diese Erscheinung - es war einfach aus der Luft gegriffen, möglicherweise hatte es sich auch aus einer anderen Welt abgesetzt, jedenfalls kam sie damit nicht zurecht, aber ihr Unbehagen steigerte sich enorm.
Suko jedenfalls geschah nichts. Er überwand die Grenze und blieb tatsächlich in der anderen Welt stehen wie jemand, der einfach dazugehört.
Er tat nichts. Er wartete ab, aber er drehte sich schließlich und schaute zurück.
Shao blickte ihn an. Sie sah ihn sogar sehr deutlich, und sie erkannte jede Hautfalte in seinem Gesicht, die Farbe der Lippen, die dunklen Augen, die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Nur wunderte sie sich über Sukos Verhalten, denn er verzog das Gesicht, als er sie anschaute, als würde ihn etwas gewaltig stören.
Damit kam die Chinesin nicht zurecht. Ihre Gedanken liefen weg. Sie suchte nach einer Lösung.
Etwas mußte mit Suko passiert sein. Oder sogar mit ihr.
»Da stimmt was nicht!« flüsterte sie sich selbst zu und sprach auch weiter. Die Worte galten eigentlich Suko, nur war es fraglich, ob er sie überhaupt hörte.
»Komm zurück, bitte! Komm zurück, das ist…«
Er kam nicht. Dafür streckte er seinen Arm aus, und die gespreizte Hand näherte sich einem Gesichtslosen, den Suko unbedingt anfassen wollte. Er schaffte es auch, aber Shao bekam sehr genau mit, daß die Hand nicht richtig zugreifen konnte.
Sie glitt hindurch.
Und dann geschah etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Ein Vorgang, der zwar unbegreiflich war, trotzdem nahe lag, denn von einem Augenblick zum anderen war von dem unheimlichen Bild nichts mehr zu sehen. Es verschwand so rasch, als wäre es ausgelöscht worden.
Keine Wächter mehr, kein Grab mehr, auch die schaurige Umgebung war verschwunden.
Und Suko?
Den gab es ebenfalls nicht mehr!
***
Ich hatte die Gaststätte wieder verlassen und war zu den Kollegen der Mordkommission gegangen.
Ihr Chef war leider nicht mein alter Freund Tanner, sondern ein bärtiger Mensch, der trotz der Hitze noch eine helle Schirmmütze trug.
Er kannte mich, wunderte sich auch nicht, sondern fragte nur immer wieder nach der Mordwaffe, als könnte er nicht glauben, daß sie so plötzlich verschwunden war.
Ich wiederholte es mehrmals, und der Kollege, er hieß Gordon Scott, schüttelte den Kopf. »Wenn ich das in den Bericht schreibe, dann halten sie mich für verrückt und versetzen mich in den Streifendienst.«
»Davor brauchen Sie keine Angst zu haben. Superintendent Sir James Powell wird Ihnen die entsprechende Rückendeckung geben, und wenn Sie wollen, ich ebenfalls.«
»Das läßt mich hoffen.«
Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn Sie mich brauchen, Sie finden mich beim Wagen.«
»Ist gut.«
Bisher hatte ich Sir James noch nicht informiert. Es war bewußt
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