0924 - Das Totenbuch
bekommen. Wir haben nur an der Oberfläche gekratzt, aber ich bin sicher, daß sich darunter etwas befindet, und unser Freund Lao Fang befürchtet, daß es dann wie eine gewaltige Fontäne an die Oberfläche schießt.«
»Du sagst es.« Suko griff in die Tasche und suchte nach einem Geldschein. Der Kellner hatte die Bewegung mitbekommen. Er stand plötzlich am Tisch und präsentierte die Rechnung.
»Danke. Stimmt so.«
Der Mann bedankte sich ebenfalls, verbeugte sich mehrmals und schaute den beiden Gästen nach, wie sie durch das Lokal gingen, kurz in den Luftstrom des Propellers gerieten, der die Haare der schönen Frau leicht auf wellte.
Auf der Straße atmeten sie auf.
Zwar war die Luft nicht viel besser als in der Gaststätte, aber sie konnten zunächst einmal durchatmen, und es ging ihnen auch besser.
Suko hatte die schmale Einfahrt gefunden, die sie durchschreiten mußten, um den Hinterhof zu erreichen. Hatten auf der Straße die Lichter der Leuchtreklamen noch genügend Helligkeit abgestrahlt, so änderte sich dies zwischen den Mauern der Einfahrt.
Ihnen gähnte eine graue Dunkelheit entgegen. Sie wirkte unheimlich und böse, als wollte sie etwas in ihrem Innern verbergen. Auf dem Hof selbst schimmerte auch kein Licht, zumindest nicht an dem Platz, den sie von ihrem Standort aus überblicken konnten.
Suko ging vor, Die Luft war einfach widerlich. Nicht, daß sie wie eine Wand zwischen den Mauern stand, sie war auch kaum zu atmen, und von einem Geruch durchdrungen, der von ihnen nicht identifiziert werden konnte. Da mischte sich alles zusammen. Menschliche Ausdünstungen, Uringestank und verfaultes Essen.
Hierher verirrte sich auch kein Tourist. Leer war die Einfahrt trotzdem nicht. Zwei Personen lagen an der linken, rauhen Wand hintereinander auf dem Boden und schliefen.
Sie passierten die Schläfer und hatten die Einfahrt nach wenigen Schritten hinter sich gelassen. Ob der Hinterhof groß oder klein war, war schlecht zu sehen. Zumindest lag die Dunkelheit über ihm, und sie sahen an der linken Seite einen Schatten, der sich wie ein kantiger Felsen nach vorn in den Hof hineinstemmte.
Das genau war der Anbau.
Suko deutete hin, und Shao nickte.
Eine Treppe sahen sie auch. An einer Seite war ein Geländer, und an deren Beginn stand wie ein starrer Wächter eine Gestalt und rührte sich nicht. Sie schaute den beiden entgegen. Das helle Hemd des Mannes schimmerte, und Shao flüsterte: »Das darf doch nicht wahr sein.«
Es stimmte aber. Vor ihnen stand Lao Fang mit schweißnassem Gesicht. »Sie?« flüsterte Shao.
»Ja - bitte…«
»Was wollen Sie denn?«
»Ich, ich muß noch mit Ihnen reden, und es ist sehr wichtig für Sie beide.«
»Warum?«
Lao Fang wischte seine Handflächen an den Hosenbeinen ab. »Ich möchte Sie warnen. Es ist ungemein wichtig. Ich muß mit Ihnen sprechen. Bitte, nehmen Sie sich die Zeit.«
»Ja«, sagte Suko, »reden Sie!«
Er räusperte sich noch. »Es ist nicht gut, wenn Sie dieses Haus betreten. Es ist wirklich nicht gut, das kann ich Ihnen sagen. Ich möchte mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, aber ein Toter ist nun wirklich genug.«
»Rechnen Sie mit weiteren Leichen?« fragte Shao.
»Ja, und ich möchte nicht, daß Sie dazugehören. Lassen Sie alles, wie es ist.«
»Was sollen wir so lassen?«
Shao erhielt keine direkte Antwort. »Manchmal ist es besser, wenn man sich um gewisse Dinge nicht kümmert. Die sollte man doch lieber ruhen lassen, finde ich.«
»Können Sie nicht deutlicher werden?« fragte Suko.
Der Mann vor ihnen rang seine Hände. »Es ist schwer für mich, aber wir kommen wohl aus einem Land, und wir wissen auch, daß man sich als Mensch nicht in alles einmischen darf. Ich will nicht sagen, daß dieses Haus hier verflucht ist, aber es gibt schon Dinge, die einem Fremden, zu denen ich mich ebenfalls zähle, nicht geheuer sind. Ihr Freund ist nicht grundlos gestorben. Er hat etwas in Bewegung gesetzt, das er lieber hätte ruhen lassen sollen.«
»Was denn«
»Geister, Totengeister, monströse Erscheinungen. Er hat sie wohl auch nicht ernst genommen. Er war wie besessen, wenn Sie verstehen…«
»Dann haben Sie ihn doch gekannt!« schloß Shao messerscharf aus diesen Bemerkungen.
Lao Fang nickte langsam. »Ich gebe zu, Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben.«
»Was machte Paul?«
Wieder wand sich der Gefragte. Er suchte nach Worten. »Es war einfach zu stark für ihn. Er beschäftigte sich mit Dingen, die für Unbedachte
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